StartseiteMagazinLebensartIm Ruhrpott drückt alter und neuer Rost durch

Im Ruhrpott drückt alter und neuer Rost durch

Die Fördertürme, die Schlote, die Zechen sind jetzt Museen. Aus Fabriken wurden Kulturzentren, aus Abräumhalden Parkanlagen. Neben dem alten Rost drückt neuer durch. Eine Reise durchs Ruhrgebiet.

«Woanders ist auch Scheisse.» Das sagt der Kabarettist Frank Goosen über seine Heimat, das Ruhrgebiet. Das Zitat vernimmt man hier häufig. Man mag auch mal Holzhammer-Ironie. Um Fäkalisch weiterzufahren: In der Schweiz würde eine solche Aussage einen Shitstorm auslösen.

Warum fährt man ins Ruhrgebiet, ins Revier, in den Pott, wie man dort sagt? Ich war schon, drei, vier Mal dort. Mich fasziniert das Gebiet aus zwei Gründen. Zum einen weil die jahrhundertealte Industrievergangenheit immer noch durchdrückt, zum anderen weil man erlebt, was aus den Industriekolossen mit rauchenden Fabrikschloten und stinkenden Gewässern geworden ist. Willy Brandt, Bundeskanzler von 1969 bis 1974, hat blauen Himmel versprochen. Zum Teil die Politik, zum grossen Teil aber der wirtschaftliche Wandel haben es geschafft. Der Ruhrpott hat wieder bundesdeutsches Durchschnittswetter.

DB-Schutzengel, S-Bahn-Teufel

Ich bin mit dem Zug nach Essen gefahren, mit der DB. Von 20 Zügen seien bloss drei hier pünktlich eingefahren, schimpft ein Kunde auf einem Bewertungsportal. Ich treffe bloss ein paar Minuten verspätet ein. Hier übergibt mein DB-Schutzengel an den ÖV-Teufel: Die Angestellten der S-Bahn streiken. Der Öffentliche Verkehr vereinigt im Pott weitere Ärgernisse. Kleinteilige Konkurrenz etwa. Das Gebiet besteht aus 48 kleineren und 5 grossen Städten. Vor allem die grossen Kommunen wollen unabhängig bleiben. Weil sie so mehr hochbezahlte Chefs beschäftigen können, sagen Kritiker.

Im Ruhrgebiet leben etwa fünf Millionen Menschen. Sie ärgern sich, dass das Gebiet kein zusammenhängendes Ticketsystem hat. Eher skurril ist, dass bis vor kurzem die Trams auf verschiedenen Spurweiten fuhren. Und: Die Verbindungen zwischen Ost und West sind gut, jene von Süden nach Norden schlecht.

Der letzte Arbeitstag. Ab 23. Dezember 1986 standen alle Räder still.

Heute ist ein Teil der Zeche Zollverein ein Museum. Es bietet Einblicke in die Vergangenheit und Ausblicke auf Essen.

Der Zollverein oder das Pathos der Arbeit

Für die Strassenbahn 107 zwischen Essen und Gelsenkirchen kann ich mit einem einzigen Ticket sitzenbleiben. Die 107 gilt als Kulturtram. Die Schätze liegen allerdings nicht direkt neben den Gleisen. Deshalb lohnt es, sich vorzubereiten. Ein Höhepunkt ist die Zeche Zollverein. Das 1986 stillgelegte Industriemonument ist ein Muss. Das Werk gehört zum Unesco-Weltkulturerbe. Die Kolosse aus Beton, Stahl und Backsteinen haben Pathos. Die lärmende, rauchende Vergangenheit ist spürbar. Heute beherbergt das Areal Restaurants, Gewerbe, Eventlokale, Ateliers, IT-Unternehmen. Und das Ruhrmuseum. Hier treffe ich den stellvertretenden Direktor Frank Kerner.

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Seniorweb: Herr Kerner, Museen, Führungen, stillgelegte Zechen, Fördertürme, Stahlwerke. Präsentiert sich das Ruhrgebiet als museales Exponat?

Frank Kerner: Nein. Es ist auch viel Neues entstanden. Die Opel-Werke zum Beispiel nutzen einen Teil der früheren Infrastruktur in Bochum für ihre Logistik. Das Ruhrgebiet behauptet sich als aufstrebender Forschungsstandort. Das führt zu einer Gentrifizierung, die auch nicht allen passt.

Die Distanz zwischen einst und heute ist extrem gross. Früher gabs Kontrollen und sichere Jobs, heute ist die Arbeitswelt viel labiler.

Die Unternehmen versuchten vor allem über Tage ihre Beschäftigten zu kontrollieren. Unter anderem mit Zeiterfassung, Wohnungen und Sozialleistungen. Unter Tage funktionierte das nicht. Dort verrechneten die Zechen ein Akkordsystem. Jedes Arbeitsteam erhielt pro Fuhre eine Gutschrift. Minderwertige Kohle wurde mit Abzug bestraft.

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Frank Kerner erwähnt als Beispiel für Gentrifizierung den Phönix-See. Dieser hat seinen Namen vom früheren Stahlwerk in der Nähe. Der See ist hübsch, die Wohnbauten sind es ebenfalls. Aber halt Durchschnitt, den man schnell vergisst. Das Stahlwerk wirkt prägender. Auch hier wird fleissig Kultur produziert. Bei meinem Besuch sind in einer ehemaligen Fertigungshalle Klimsch-Bilder zu sehen. Es sind Replika. Der Stahlwirrwar im 1998 aufgegebenen Produktionsareal ist aufregender.

Der Phönix-See bei Dortmund ist auf dem Gelände des früheren gleichnamigen Stahlwerks entstanden. Das stillgelegte Industriemonument produzierte bis 1998 (Bilder zum Vergrössern anklicken).

Bei den Eiklerinnen und Rauxlern

Hörde heisst der Dortmunder Stadtteil mit See und Stahlwerk. Auf der Fahrt nach Essen hält die S-Bahn auch an Städten mit so eigenartigen Namen wie Wanne-Eikel und Castrop-Rauxel. Ich sinniere, wie sich die Bewohner bezeichnen: als Eikelerinnen und Rauxler?
Zurück in Essen begegne ich Vera Bücker. Mit Norbert Marissen organisiert die Historikerin unter dem Namen echtnahdran.de Führungen. Die beiden haben neben Bus- auch Radtouren im Programm.

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Seniorweb: Vera Bücker, das Ruhrgebiet habe wieder Tritt gefasst, sagt Frank Kerner vom Ruhrmuseum.

Vera Bücker: Aus meiner Sicht hat sich das Revier wenig innovativ entwickelt.

Ihre Begründung?

Die Zechen haben ihre Arbeitnehmer rundum versorgt, mit Spitälern, Freizeitmöglichkeiten, günstigen Wohnungen. Das behindert bis heute die berufliche Mobilität und Innovationsbereitschaft.

Hier leben viele Leute mit Migrationshintergrund.

Unterstützt durch starke Gewerkschaften haben die Arbeiter ab den Fünfzigerjahren gut verdient. Die relativ hohen Löhne haben bereits vorher viele Ausländer angezogen, besonders Holländer und Polen. Unterdessen schimpfen die etablierten Eingewanderten über die neuen Zuzüger, die Rumänen etwa.

Oder über die Türken?

Menschen aus der Türkei leben zum Teil schon recht lange hier. Sie sind mit ihrer Lebensweise und Kultur an gewissen Orten sehr präsent, zum Beispiel im Duisburger Stadtteil Marxloh. Es lohnt sich, das anzusehen.

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Ich folge ihrem Rat. Dies ungeachtet der Warnungen. Die Medien verbreiten, dass Marxloh eine No-Go-Zone sei. Die Polizei getraue sich nachts nur noch in Hundertschaften hin. Was soll man da sagen, was denken? Unzugänglich ist Marxloh tatsächlich. Aber nicht weil gefährliche Südländer den Schweizer Berichterstatter bedrohen. Sondern weil der ÖV streikt. Einmal mehr.

Bummel durch die No-Go-Zone

Mehr als acht Kilometer müsste ich laufen, um vom Bahnhof dorthin zu gelangen. Ich nehme ein Taxi. Dilan Fahri heisst der Fahrer. Er ist Türke, spricht gut deutsch und warnt mich vor dem Stau. Tatsächlich brauchen wir fast eine Stunde. Stau und Streik erweisen sich als hilfreich. Von Fahri erfahre ich in einem Crashkurs vieles über das türkische Leben im Ruhrgebiet. Trotzdem staune ich, als ich in Marxloh aussteige. Der über einen Kilometer lange Strassenabschnitt ist Deutschlands grösste Einkaufsmeile für türkische Hochzeitswillige.

Um in der Shoppingmeile von Marxloh Hochzeitswolken einzukaufen, kommen viele Türkinnen und ein paar Türken aus ganz Deutschland.

Begleiten wir das angenommene Brautpaar Defne und Kerim beim Shoppingbummel. Dazwischengeschoben: Vorurteile gegenüber anderen Völkern sind meist Humbug, oft gefährlich. Daneben gibt es auch vermeintliche oder tatsächlich vorhandene Eigenschaften, die sympathisch sind. Der Familiensinn der Türken etwa. Die opulenten Hochzeitsfeiern hingegen ziehen viele Probleme nach sich. Davon später.

Prinzessin in der Tüllwolke

Jetzt wechseln wir wieder zur Shopping-Tour. Defne und Kerim finden, was sie suchen. Sie wählt einen Traum aus weissem Tüll, ein Prinzessinenkleid. Er entscheidet sich für einen weissen Anzug mit Gilet. Das Geschäft bietet einen vergünstigten Kombipreis, 3000 Euro. Nur wenige Schritte weiter verkauft einer der vielen Marxloher Juweliere seine Kostbarkeiten. Wir verschweigen, was die beiden bezahlen.

Stattdessen soll Taxifahrer Fahri zu Wort kommen. «Türkische Brautleute geben für ein grandioses Fest, für Kleider, den Schmuck und das Drumherum oft bis zu 35 000 Euro oder mehr aus. Und leiden dann jahrzehntelang unter den Schulden.» Der Druck durch die türkische Gemeinschaft und die Familie sei sehr gross.

Kopf unter dem Tuch, Mann in der Hand

Ja, ja, die Familie. Und die vermeintlich unterdrückten türkischen Frauen. Dilan Fahri lacht und erzählt: «Wir haben zwei Söhne. Einer ist fleissig. Der andere arbeitet selten und hockt in den Kneipen.» Fahri: «Er soll eine Frau heiraten, die ihm sagt, was Sache ist. Nämlich arbeiten und die Kneipen vergessen. Um 18.00 Uhr hat er zuhause zu sein.»

Jetzt sind wir über Duisburg und Marxloh in der Türkei gelandet. Dorthin will der Täxeler wieder zurück. Sobald der verlorene Sohn auf eigenen Beinen steht. Fahri: «Es ist gut in Deutschland, Aber wir wollen in die Türkei zurück in die Heimat.»

Das ist ein guter Schluss für einen Reisebericht. Es ist gut im Ruhrgebiet, nicht immer, nicht überall. Aber jetzt fahre ich in die Schweiz zurück. Heimat.

Bildnachweise: Freepik, Ruhrmuseum, Peter Steiger, Werbevideo Bridal

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