StartseiteMagazinLebensartZu Besuch bei Marlen Würsch

Zu Besuch bei Marlen Würsch

Die 91jährige Marlen Würsch war Telegrafistin, Bäuerin, Weltreisende und sitzt jetzt mit Begeisterung an der Nähmaschine und stellt bunte Decken für Flüchtlingskinder her. Über ihre Engagements sprach sie mit Seniorweb.

Marlen Würsch wohnt im vierten, obersten Geschoss einer Überbauung aus dem 1970er Jahren. Vom Stubenfenster aus sieht sie ins Grüne, auf Baumkronen und bunte Sträucher. An einer Ecke steht der ehemalige Kindergarten, zurzeit ein kostenloser Shop für ukrainische Flüchtlinge in der Schweiz, Gosha for Ukraine in Killwangen, Seniorweb berichtete darüber.

Im Februar 2023 feierte Marlen Würsch ihren neunzigsten Geburtstag.

Seit 2016 näht sie für Mini Decki. Ein Projekt, das Simone Maurer aus Rütihof bei Baden 2014 ins Leben rief, nachdem sie Berichte über Flüchtlingskatastrophen gelesen hatte. Ebenfalls über die Medien erfuhr Marlen Würsch von diesem Projekt und fand es eine tolle Idee.

Für Mini Decki nähen Frauen in der ganzen Schweiz Decken, die an geflüchtete Kinder verteilt werden und die sie behalten dürfen. «Jedes geflüchtete Kind braucht eine eigene Decke, die wärmt, schützt und ein Zuhause gibt auf der langen, unsicheren Reise», schreibt Simone Maurer, selber Mutter, auf ihrer Webseite. Nachdem die Nachfrage nach Decken für die Initiantin zu gross wurde, gründete sie die Gruppe Mini Decki auf Facebook und startete einen Blog. Die Nachricht verbreitete sich in der Schweiz sehr schnell, auch in Deutschland und Österreich, und so nähen Frauen jeden Alters auf freiwilliger Basis diese Decken nach vorgegebenem Schnittmuster.

Warme und bunte Decken für Flüchtlingskinder näht Marlen Würsch oft in kunstvoller Patchwork Arbeit und verwertet dabei kleine Stoffresten, die präzise berechnet zugeschnitten werden müssen, damit alles passt.

Aufgewachsen ist Marlen Würsch im Aargauischen Neuenhof mit fünf Geschwistern. Der Vater war als Mitarbeiter der SBB zuständig für den Umbau von Bahnstrecken. Sie wollte von klein auf Bäuerin werden. Doch der Vater, selbst Bauernsohn, war dagegen, er wollte sie vor der strengen Arbeit auf einem Bauernhof bewahren. Nach zwei Jahren im Welschland musste sie eine einjährige Lehre als Telegrafistin machen; noch nie hatte sie zuvor ein Telegramm gesehen. Anschliessend lebte und arbeitete sie in Zürich zu einem für sie damals grossen Lohn von 500.- Franken, von dem sie zehn Prozent behalten durfte, der Rest ging an die Familie. Und der Vater war beruhigt, dass sie in der Stadt gewiss keinen Bauer finden würde.

Von ihrem Nähzimmer aus sieht sie auf das bewegte Limmattal mit Bahnhof, Autobahn, neuerdings der Limmattalbahn sowie bei schönem Wetter bis in die Berge.

Doch das Schicksal meinte es gut mit ihr. Sie traf auf einen Bauernsohn, nicht in Zürich, aber in der Nachbargemeinde von Neuenhof, in Killwangen. Nach der Verlobung machte sie ein neunmonatiges Praktikum bei einer tüchtigen Bäuerin mit fünf kleinen Kindern. So war sie nach der Heirat 1955 bestens vorbereitet, lernte Brot im Holzofen ohne Thermometer zu backen, endlich hatte sich ihr Traum erfüllt. Und sie war mit Leib und Seele Bäuerin, gesegnet mit zwei Töchtern und drei Söhnen.

1990 übernahm der jüngste Sohn den Bauernhof und sie und ihr Mann zogen in eine Eigentumswohnung, wo sie noch heute lebt. Für Marlen Würsch war klar, ein neuer Lebensabschnitt beginnt, sie müssen die Jungen machen lassen. Ihnen eröffnete sich dafür die Welt. Ein Sohn war nach Australien ausgewandert, wo er eine grosse Farm betreibt, ein anderer wurde Bauingenieur und arbeitet an Projekten etwa in der Türkei, in Burma oder in Indonesien. Nun reisten die Eltern nach Australien, jeweils mit einem Zwischenhalt in Indonesien, Vietnam oder Burma. Ihr Mann wäre am liebsten auf der Farm in Australien geblieben. Doch bei ihrem Besuch erlebten sie eine extreme Dürre, das Vieh litt, der Boden, alle Bäume verdorrt, das war für Marlen kein Leben, also kehrten sie wieder zurück.

Das Fotoalbum erinnert an die Weihnachtspäckli-Aktion für die Kinderhilfe in Rumänien. Im Partykeller der Überbauung wurden die Waren gestapelt und auf Weihnachten hin mit Helferinnen verpackt.

Nachdem der Mann krankheitsbedingt den Computer nicht mehr bedienen konnte, besuchte sie Kurse, damit sie mit ihrer Familie im Ausland in Kontakt bleiben konnte. Auch nach seinem Tod 2011 blieb sie sozial offen. Bis heute lädt sie einmal im Monat einige Witwer aus der Nachbarschaft zum Essen ein, «damit die einmal recht essen und nicht vereinsamen». Alle schwärmen von ihrer Küche; doch leider werden es immer weniger.

Während vieler Jahre sammelte und nähte Marlen Würsch Kinder- und Puppenkleider, die in Rumänien durch ein inzwischen aufgelöstes Hilfswerk verteilt wurden. Angefangen hatte es mit vier bis fünf Päckli für Weihnachten. Diese Pakete enthielten stets Kinderkleider, Spielsachen, Toilettenartikel, Schreibzeug und eine Tafel Schokolade. Da sie nur makellose Kleider weitergab, kontrollierte sie jedes Stück einzeln. Nachdem sie ihren beiden Schwestern von dieser Aktion erzählte, auch den Frauen, die sich wöchentlich einmal in der IKEA zum Zmorge treffen, wollten alle mithelfen. Zehn bis zwanzig Frauen unterstützten sie bis zum Schluss, auch beim Verpacken. Bei der allerletzten Lieferung waren es 277 Weihnachtspakete, die sie dem Hilfswerk mitgeben konnte.

Die ganze Vorbereitungsarbeit passiert auf dem Boden. Achtzehn Mal muss sie knien und wieder aufstehen, bis eine Decke fertig ist, aber das macht ihr keine Mühe.

Seit rund sieben Jahren näht Marlen Würsch Decken für Mini Decki. 543 Decken sind es bis heute, jede Woche vier bis fünf Stück. Nur übers Wochenende bleibt ihr Nähatelier geschlossen, sagt sie, und akzeptiert auch keine Flickarbeiten für die Familie. Jede Decke fotografiert sie für ihr Album. Seit Goshas Freeshop in nächster Nähe eröffnet ist, übergibt sie jeden Samstag ihre Wochenproduktion diesem Hilfswerk, das die Decken ukrainischen Flüchtlingskindern zukommen lässt.

Auf die Frage, wie sie nähen gelernt hat, meint sie, dass ihre Mutter alles für die Kinder selber herstellte, dabei hätte sie viel mitbekommen. Die Stoffe für die Decken erhält sie von Bekannten. Nur das Füllmaterial, Vlies aus der IKEA, das diese heute sponsert, hätte sie anfänglich selber gekauft, ebenso die Fäden. Ihre Lebensphilosophie «tue Gutes, solange Du kannst, nachher geht’s nicht mehr», lebt sie. Manchmal erhält sie Fotos oder kurze Videos von den Kindern, das freut sie besonders.

Fotos: rv
Projekt «Mini Decki»

 

 

 

Spenden

Wenn Ihnen dieser Artikel gefallen hat, Sie zum Denken angeregt, gar herausgefordert hat, sind wir um Ihre Unterstützung sehr dankbar. Unsere Mitarbeiter:innen sind alle ehrenamtlich tätig.
Mit Ihrem Beitrag ermöglichen Sie uns, die Website laufend zu optimieren, Sie auf dem neusten Stand zu halten. Seniorweb dankt Ihnen herzlich.

oder über:
IBAN CH15 0483 5099 1604 4100 0

Kommentieren Sie den Artikel

Bitte geben Sie Ihren Kommentar ein!
Bitte geben Sie hier Ihren Namen ein

Beliebte Artikel

Mitgliedschaften für Leser:innen

  • 20% Ermässigung auf Kurse im Lernzentrum und Online-Kurse
  • Reduzierter Preis beim Kauf einer Limmex Notfall-Uhr
  • Vorzugspreis für einen «Freedreams-Hotelgutschein»
  • Zugang zu Projekten über unsere Partner
  • Massgeschneiderte Partnerangebote
  • Buchung von Ferien im Baudenkmal, Rabatt von CHF 50 .-