StartseiteMagazinKolumnenDer Autonomie-Anspruch des modernen Menschen

Der Autonomie-Anspruch des modernen Menschen

Angesichts derzeit verengter gesellschaftlicher Diskursräume tut eine Besinnung auf die Voraussetzungen des modernen Rechtsstaats not. Die moderne, demokratisch organisierte Gesellschaft und so auch die schweizerische Verfassung basieren auf dem Freiheits- und Autonomieverständnis, wie es Immanuel Kant formuliert hat. Diesem gemäss dürfen Menschen fast alles ablehnen, solange sie urteilsfähig und nicht stark fremdgefährdend sind, aber nur das von der Gesellschaft einfordern, was in demokratischen Entscheidungsfindungsprozessen festgelegt wird. Während also das Abwehrrecht fast unbeschränkt gilt, gibt es nur ein beschränktes Einforderungsrecht gegenüber der Gesellschaft. Deshalb darf man zum Beispiel nicht Menschen gegen ihren Willen am Leben erhalten, und sie können Suizid begehen, aber sie haben nicht das Recht, nach ihrem Belieben medizinische Behandlungen einzufordern, sondern nur solche, die medizinisch indiziert sind und von der Gesellschaft finanziert werden. Ferner ist es nicht möglich, jemand zu zwingen, eine bestimmte Arbeitsstelle anzutreten, aber umgekehrt besteht kein Anspruch auf eine bestimmte Arbeitsstelle.

Die schweizerische Bundesverfassung schützt denn auch vor allem Abwehrrechte. Einforderungsrechte gibt es nur wenige, beispielsweise ein Recht auf Nothilfe oder Bildung. Der Einforderungsrahmen für medizinische Behandlung, Pflege und Betreuung wird in demokratischen Gesetzgebungsprozessen festgelegt.

In öffentlichen Debatten werden «Autonomie» und «Freiheit» als «Selbstbestimmung» oft nicht als individuelles Abwehrrecht, sondern als Erlaubnis, alles zu tun oder zu lassen, was einem beliebt, oder gar als grenzenloses Einforderungsrecht gegenüber der Gesellschaft verstanden. Diese Auffassung von Selbstbestimmung widerspricht dem ursprünglichen Verständnis von Autonomie. Das Selbstverständnis und auch das Freiheitsverständnis des modernen Menschen sind stark vom Anspruch auf Autonomie geprägt. Angesichts der beträchtlichen gesellschaftlichen Trageweite des jeweiligen Freiheits- und Autonomieverständnisses lohnt sich eine Klärung dieser Begriffe.

Der Autonomiebegriff geht auf den Philosophen der Aufklärung Immanuel Kant zurück, der ihn als Erster verwendet hat. «Autonomie» stammt aus dem Griechischen und setzt sich aus «autos» = selbst und «Nomos» = Gesetzgebung zusammen, bedeutet also «Selbstgesetzgebung». Während Selbstbestimmung nur eine Person im Blick hat, setzt Autonomie als Selbstgesetzgebung mehrere Menschen voraus. Setzt man Autonomie mit Selbstbestimmung gleich, heisst das, dass man tun und lassen kann, was man will, was gemäss Immanuel Kant nicht Freiheit, sondern Willkür zur Folge hat. Freiheit und Selbstbestimmung grenzen sich gegenüber Willkür dadurch ab, dass sie durch die Autonomie als Selbstgesetzgebung beschränkt werden. Das Verhältniszwischen Selbstbestimmung und Selbstgesetzgebung lässt sich mit den zwei Forderungen des kategorischen Imperativs von Kant bestimmen: Die erste lautet, dass man andere Menschen und auch sich selbst nicht bloss als Mittel gebraucht, d. h. nicht instrumentalisiert, die zweite, dass wir unser Handeln stets an der Maxime ausrichten, dass daraus ein allgemeines Gesetz werden kann.

Das Instrumentalisierungsverbot führt zum Verständnis von Autonomie als Abwehrrecht: Menschen müssen gefragt werden, wenn mit ihnen etwas geschehen soll, und sie haben grundsätzlich Anspruch auf Integrität. Der zweiten Forderung gemäss wird Autonomie als Verallgemeinerungsregel verstanden, die den Rahmen für Einforderungen gegenüber der Gesellschaft festlegt. In demokratisch verfassten Staaten geschieht dies über Abstimmungen. Das Instrumentalisierungsverbot, das Abwehrrecht jedes Menschen gegenüber dem Staat, wird dabei vorverfassungsmässig garantiert.

Autonomie bedeutet demnach sowohl Selbstbestimmung als Abwehrrecht als auch Selbstgesetzgebung als Einforderungsrecht gegenüber dem Staat, d. h. das Recht, an Gesetzgebungsprozessen beteiligt zu sein und den Einforderungsrahmen mitzubestimmen. Dieser bemisst sich in einer humanen Gesellschaft am Wohl der Schwachen und an der Verantwortung gegenüber zukünftigen Generationen.

Autonomie als Selbstgesetzgebung meint weder Willkür noch Selbstgerechtigkeit, sondern die aktive Beteiligung an politischen Entscheidungsfindungsprozessen. In einem demokratisch verfassten humanen Rechtsstaat sind wir darum gehalten, miteinander um ethisch vertretbare Entscheidungen und Handlungen im Dialog auf Augenhöhe und mit gegenseitigem Respekt zu ringen. Das setzt voraus, dass Andersdenkende sich an einen Tisch setzen und unterschiedliche Einschätzungen von Fakten und verschiedene Lebensentwürfe respektieren. Wer sich auf einen solchen Dialog einlässt, dem wird schnell klar, dass angesichts der anstehenden Probleme weltweit ein Schwarz-Weiss-Denken und die Selbsteinschätzung, zu den «Guten» zu gehören, nicht weiterhelfen.


Dr. theol. Ruth Baumann-Hölzle ist Leiterin des Instituts Dialog Ethik

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