Eine kleine Reise zu Dürrenmatts langjährigem Wohnsitz hoch über dem Neuenburger See und was wir dabei über den grossen Schweizer Schriftsteller erfahren.
«Willkommen in Dürrenmatts Bibliothek», so begrüsste uns Madeleine Betschart, Direktorin des Centre Dürrenmatt Neuchâtel (CDN), in diesem üblicherweise nicht frei zugänglichen Raum. Sie bat uns zu schätzen, wie viele Bücher sich in den Regalen befänden – es sind 4’000 Bücher. So eine hohe Zahl hatte niemand in unserer Gruppe geschätzt.
Ein wunderschöner Raum ist diese Bibliothek in ihrer Originaleinrichtung. Dürrenmatts empfingen hier Gäste, Lotti sass in ihrem Sessel und las die Manuskripte ihres Mannes. Sie war ihr Leben lang seine erste Leserin und Kritikerin. Ihr Urteil war Dürrenmatt sehr wichtig.
Dürrenmatts Bibliothek (Foto mp)
Der Ausflug hatte im Bahnhof Bern begonnen. Das Centre Dürrenmatt und der Literaturvermittler und Kabarettist Gusti Pollak entwickelten gemeinsam ein Programm, das unsere Gruppe in Zug, Bus und zu Fuss zum Centre führt. Dieses Programm wird den ganzen Sommer über regelmässig durchgeführt. Mehr dazu am Ende dieses Artikels.
Gusti Pollak (Foto mp)
Dürrenmatt und der Zug, erzählte uns Gusti Pollak auf der Fahrt, das sei eine lange Beziehung. In seinen jungen Jahren, als er noch keine grossen Erfolge feiern konnte, benutzte Dürrenmatt oft den Zug. Zwischen Neuenburg und Bern fuhr er unzählige Male. Nun sassen wir da und erfuhren von unserem Reiseleiter, wie sich Dürrenmatt von der Landschaft, dem Grossen Moos, inspirieren liess oder vom früheren Bahnhof Ins. Da leuchtet es ein, dass Dürrenmatt in seinem Denken und Schaffen stets um Nähe und Distanz oder um Enge und Weite kreiste.
Auch wenn der Tunnel bei Gümmenen nicht auf den Tunnel in Dürrenmatts gleichnamiger Erzählung hinweist, erinnert Pollak zu recht an diese Erzählung. Sie zeigt, wie der Berner Autor Groteskes und Surreales einsetzt, um die kommende Katastrophe vorzubereiten.
die «Sixtinische Kapelle» (Foto mp)
In seinem Haus, das Dürrenmatt mit finanzieller Hilfe einiger Freunde 1952 erwerben konnte, dem ersten Haus in Neuenburg mit einem Flachdach, ist die «Sixtinische Kapelle», die Toilette des Hauses, ebenfalls im Originalzustand zu sehen, in seinem charakteristischen Stil in kräftigen Farben ausgemalt.
Den Namen des «stillen Örtchens» hatten sich Dürrenmatts nach dem Besuch der gleichnamigen Kapelle in Rom ausgedacht – da zeigt sich einmal mehr der Schalk des Hausherrn. Hineinschauen und schmunzeln konnten die Besucher schon in früheren Jahren.
Nun hat sich das Team um Madeleine Betschart die Mühe gemacht, die einzelnen Figuren zu identifizieren und vergleichbare Darstellungen in Dürrenmatts Zeichnungen und Bildern zu suchen. Sie sind in einer aktuellen Sonderausstellung ausgestellt und erklärt.
Neu eingerichtet wurde ein hochmodernes Schaulager, wo Gemälde und graphische Werke so gelagert sind, dass man sie zum Anschauen herausziehen kann. Damit ist eines der wichtigsten Anliegen der Direktorin nach und nach verwirklicht worden: Friedrich Dürrenmatt wird nun nicht nur als Schriftsteller, sondern auch als Maler, Zeichner und Graphiker präsentiert. Was für seine literarischen Werke seit langem unbestritten ist, gilt auch für seine bildnerischen Arbeiten: Sie erreichen ein hohes Niveau und grosse Originalität. So wie Dürrenmatt an seinem Schreibtisch zugleich schrieb und zeichnete, wird sein Werk nun auch in drei Bänden publiziert.
Friedrich Dürrenmatt: Route Napoléon. Gouache auf Karton, 1960 (Foto mp). – Als die Familie ein Auto besass, fuhren Dürrenmatts in den Ferien gern nach Südfrankreich.
«Es gibt gewisse Dinge, die kann ich nur zeichnen, und es gibt gewisse Dinge, die kann ich nur schreiben. Aber man zeichnet und schreibt aus dem gleichen Hintergrund. Und der Hintergrund ist das Denken, ist das Denken über die Welt», sagt Dürrenmatt selbst dazu. In seinem Arbeitszimmer hat er dafür einen überdimensional grossen Schreibtisch mit je einem Platz um Zeichnen und zum Schreiben. – Seit einiger Zeit ist das Arbeitszimmer an Samstagen zu besichtigen.
Sein Fernrohr hat dort auch seinen festen Platz. Es ist bekannt, dass Dürrenmatt sich intensiv mit Astronomie auseinandergesetzt hat. Die weite Sicht, die sich von seinem Haus aus eröffnet, fasziniert jeden. Bei Tag benutzte er das Fernrohr auch manchmal, erzählen Madeleine Betschart und Gusti Pollak: Dürrenmatt konnte damit nämlich die Spiele im Xamax-Fussballstadion La Maladière verfolgen. Er sei aber weniger an den Toren interessiert, hören wir von Madeleine Betschart, ein Fussballspiel habe er weniger als Sportwettkampf, eher als Theaterspiel verfolgt. Er war Gönnermitglied im Xamax-Verein und kannte den legendären Präsidenten Gilbert Facchinetti persönlich.
Madeleine Betschart, Direktorin des Centre Dürrenmatt Neuchâtel (Foto mp)
L’ouverture à la cité, das ist ein wichtiges Ziel des Centre, erklärt mir Madeleine Betschart, sich zur Stadt Neuchâtel zu öffnen und darüber hinaus interkulturelle Ansätze zu verwirklichen; Schulklassen für Projekte ins Centre zu bringen, künstlerische Projekte der freien Szene einzuladen und mit verwandten künstlerischen Institutionen zusammenzuarbeiten.
Gerade ist ein dreijähriges wissenschaftliches Projekt mit der Berliner Hochschule der Künste angelaufen. Es geht darum, Dürrenmatts Schaffen «wachsen und sich ausbreiten» zu lassen, das Fundament des bestehenden Werks wird dabei nicht angetastet. Hätte ein so vielseitig interessierter Mensch wie Dürrenmatt einem solchen Zentrum wie dem CDN nicht ebenfalls einen möglichst weiten Horizont geben wollen?
Beim Rundgang durch die Dauerausstellung fällt auf, wie intensiv und früh sich Dürrenmatt mit Fragen auseinandergesetzt hat, die uns heute mehr denn je umtreiben: Flüchtlingspolitik, Umweltverschmutzung, ethisch vertretbare Tierhaltung, die Banken mit ihrem Einfluss auf die Gesellschaft, nicht zuletzt die Atomfrage und die Gefahr der nuklearen Vernichtung. In verschiedenen Momenten dieses Tages hatte Gusti Pollak aus Dürrenmatts Werk zitiert:
Wer die Erde wohnbar machen will
Und freundlicher
Den lacht man aus
Jagt ihn fort
in stinkende Sümpfe
Dann vergisst man ihn
Doch sein Werk ist nicht
verloren
Den fernen Nachfahren
bringen es
Leichtfertige Komödianten
wieder zurück.
(Friedrich Dürrenmatt 1963 (WA 1998, B.30,73, nach Angaben von G. Pollak)
Blick in die Dauerausstellung © Centre Dürrenmatt Neuchâtel
Im Laufe der Reise zu Dürrenmatt und im Gespräch mit Madeleine Betschart und Gusti Pollak kommen noch viele interessante Gedanken und amüsante Anekdoten aus Dürrenmatts Leben zur Sprache. Das Vallon de l’Ermitage, ein stille, schattiges Tälchen, führt zu Dürrenmatts Wohnsitz. Zuerst kommt man durch den Botanischen Garten der Stadt, der einen Besuch verdient. Die beiden benachbarten Zentren pflegen eine fruchtbare gemeinsame Zusammenarbeit.
Eine Reise zu Dürrenmatt.
Die Welt(en) des malenden Autors mit dem Zug er-fahren.
Kommentierte Reise im BLS-Zug ab Bern ins Centre Dürrenmatt Neuchâtel mit Theatermann Gusti Pollak. Führung durch das Museum, welches die Bilder des malenden Autors im Dialog mit seinem literarischen Schaffen zeigt.
Reisedaten: 1.7., 15.7., 5.8., 19.8., 2.9., 16.9., 30.9., 14.10. 2023
Informationen und Anmeldung
Centre Dürrenmatt Neuchâtel
Gusti Pollak
Titelbild: In den Bau von Mario Botta ist rechts Dürrenmatts erstes Wohnhaus integriert. Weiter oben rechts sieht man das zweite Wohnhaus, das Dürrenmatt bauen liess. Dort wohnte er zuletzt mit seiner zweiten Ehefrau Charlotte Kerr. © Centre Dürrenmatt Neuchâtel