Wie lebt Thomas Lüchinger, der unter anderem mit den Filmen «Schritte der Achtsamkeit» (1997), «Johle und werche» (2007), «Being There – Da Sein» (2016), «Paths of Life» (2020) und «Sound and Silence» (2023) für Aufmerksamkeit gesorgt hat?
Mein Weg führt über die Wiese zu seinem Haus in Rehetobel in Appenzell Ausserrhoden auf 1000 m. ü. M. Vor zwei Jahren haben seine Frau Catherine de Clercq und er das Haus mit angebauter Scheune trotz vielen Mitbewerbern mit Glück kaufen können. Sofort machten sie sich an den Aus- und Umbau nach eigenen Plänen. Im Wohnhaus wurden zunächst die Decken mit Hilfe eines befreundeten Zimmermanns ca. 40 cm gehoben, dann begann der Innenausbau. Vor gut einem Jahr zog er mit seiner Frau ein. Mit sichtlichem Stolz führt mich Thomas Lüchinger durch das Haus. Wo ich auch hinblicke, ich kann nur staunen und mich mitfreuen. Die kluge Kombination von altem und neuem Holz, die Ausstattung aller Räume, die Bilder an den Wänden … ich merke, eine Besichtigung könnte sehr, sehr lange dauern. Da ich kein Buch schreiben will, schlage ich vor, dass wir uns für ein Gespräch in den Garten setzen.Mit Thomas Lüchinger im Gespräch (Foto: bs)
Im Garten hat Thomas Lüchinger mit einem Portugiesen einen kleinen Badeweiher mit Bergmolchen und Fröschen angelegt, eine Permakultur mit vielen heimischen Pflanzen, die reichlich von Insekten und Faltern besucht werden, und einen Gemüsegarten. Mir wird klar, da wirkt und lernt einer beim Tätigsein… auch wie man Schnecken biologisch bekämpfen kann oder den Schermäusen mit selbst hergestellten Eukalyptusöl-getränkten Holzspanknäueln den Kampf ansagt.
Der Badeweiher im Morgenrot
Zwei Filmprojekte stehen an. Besteht nicht die Gefahr, dass bei der intensiven Haus- und Gartenarbeit die Filmprojekte darunter leiden? Thomas Lüchinger: «Es kann schon sein, dass ich eine halbe Stunde in den Garten will und mich dann «verliere» und erst nach drei, vier Stunden wieder ins Haus gehe.»
Im Garten reden wir über seinen Werdegang, einige seiner Filme und Filmprojekte.
Seniorweb: Sie wollten schon in jungen Jahren Künstler werden. Wie kamen Sie als Sohn eines Gemeindeangestellten aus dem Rheintal auf diese verwegene Idee?
Thomas Lüchinger: Meine Grossmutter war Italienerin. Sie führte einen Kolonialwarenladen, der für mich – im kleinen Dorf, wo ich aufgewachsen bin – allein durch die Düfte und all die italienischen Produkte, die sie dort verkaufte, ein Tor zur Welt bedeutete. Zum Glück lebte sie in der nahen Nachbarschaft. So konnte ich viel Zeit bei ihr verbringen. Da Zeichnen und Gestalten in meiner Kindheit zu meinen Lieblingsbeschäftigungen gehörten, hat mir meine Grossmutter jeweils am Sonntagnachmittag grosse Tafeln, Pinsel und Farben zur Verfügung gestellt. Diese Tafeln durfte ich, je nach Angebot, gestalten. So malte ich verführerisch leuchtende Aprikosen, Pfirsiche, Trauben, darunter kurze Texte, welche die Kunden einladen sollten, sich einen Kauf nicht entgehen zu lassen. Ich war immer sehr stolz, diese Tafeln vor dem Laden am Strassenrand zu sehen. Das waren in gewisser Weise meine ersten Ausstellungen…
Zudem malte meine Mutter und mein Vater hat mein Talent immer gefördert. Es gab auch einen Grossonkel, der, von Beruf Maler, künstlerisch tätig war. So erlebte ich mein Umfeld damals als sehr förderlich. Jahre später, als ich entschieden hatte eine Kunstschule zu besuchen, war mein Vater hingegen gar nicht glücklich über diese Entscheidung. Seiner Meinung nach sollte ich mich für einen ‚sicheren’ Beruf entscheiden.
Was lernen Liv und Serafin wohl von ihrem Grosspapa Thomas Lüchinger? (Foto: Standbild aus Film «Zuversicht» 2021)
Wer hat Sie in der Anfangsphase Ihrer künstlerischen Laufbahn unterstützt?
Als ich das Lehrerseminar in Zug besuchte, war mein Zeichenlehrer, Robert Brigati, ein wichtiges Vorbild war für mich. Seine Art zu unterrichten, die Welt, die er uns durch seine Vorträge zur Kunstgeschichte eröffnete und die Freiheit, die er uns gewährte, waren für mich eine Offenbarung. Schon bevor ich das Seminar besuchte, faszinierten mich die Bilder der abstrakten Expressionisten. Ich weiss gar nicht mehr, wie ich damals zu jenen Bildern gekommen bin. Mein Schulfreund Werner, der bereits in der Sekundarschule die Zeitschrift „Twen“ abonniert hatte, ermöglichte mir damit Eindrücke aus der Kunst- und Musikszene, die bei uns zuhause nicht geduldet worden wären.
Sie haben zwei Bücher veröffentlicht, die mehrfach aufgelegt und in verschiedene Sprachen übersetzt wurden: «Intuitiv Zeichnen – Wege zum Sehen, Erfahren, Besinnen» und «Intuitiv Malen – Wege zur Kreativität». Was war dabei Ihr zentrales Anliegen?
Diese beiden Bücher entstanden beiläufig. Ein Stipendium der Stadt Zürich ermöglichte mir einen einjährigen Atelier-Aufenthalt in New York und danach bekam ich an der ETH Zürich einen Lehrauftrag an der Abt. für Geistes- und Sozialwissenschaften. Da leitete ich während einigen Jahren ein Atelier für künstlerisch interessierte Studierende. Dieses Angebot wurde sehr rege genutzt. Aus den Vorbereitungen für diese Veranstaltungen ist das Buch „Intuitiv Zeichnen“ entstanden. Zentral dabei ist die Ermutigung, künstlerisches Tun nicht als eine Frage der Begabung zu sehen. Es geht in erster Linie darum, die eigene Wahrnehmung zu „schärfen“. Zeichnen lernen bedeutet Sehen lernen. Das Buch ist eine Art „ABC des Sehens“.
Das Buch „Intuitiv malen – Wege zur Kreativität“ ist aus meinen Unterrichtsvorbereitungen an der Hochschule der Künste (ZHdK) entstanden. Darin gibt es zahlreiche Einladungen, sich auf einen Bildprozess einzulassen, bei dem die Malenden sich davon führen lassen, was das Bild von ihnen wünscht. Das führt zu einem tiefen Dialog mit dem, was sich im Bild zeigt und bedingt einzig die Bereitschaft, sich vom Bild führen zu lassen. Menschen, die sich auf diesen Prozess einlassen, erkennen, dass Kreativität Vertrauen in die in uns allen schlummernde Kraft des Schöpferischen bedeutet.
Sind Sie auch ein intuitiver Filmer?
Wenn ‚intuitiv’ bedeutet, dem nachzugehen, was eine grosse Resonanz in mir auslöst, dann bin ich ein intuitiver Filmer. Es ist allerdings so, dass – nachdem eine Begegnung oder ein Erlebnis eine starke innere Regung und damit einen Wunsch zu einem Film bewirkt hat – erstmals eine intensive Arbeit folgt. Diese beginnt mit einer ausgiebigen Recherche. Dann folgen Projektentwicklung, Drehkonzept, Budgetierung, Finanzierung. Erst danach beginnen die Dreharbeiten, die schliesslich in die Filmmontage und in die Postproduktion münden. Mit anderen Worten: ein Filmprojekt dauert im Schnitt drei Jahre. Aber während den Dreharbeiten lasse ich mich durchaus auch von der Intuition führen. Das Drehkonzept ist dann ein Wegweiser, der hilft, die angestrebte Richtung nicht zu verlieren. In praktisch allen meinen Filmen war es so, dass sich während den Dreharbeiten Unerwartetes einstellte, so dass das Konzept geändert werden musste. Intuition bedeutet dann ganz einfach Flexibilität und sich von dem führen zu lassen, was jetzt wichtig ist. Beim letzten Film ‚SOUND AND SILENCE’, den ich in Japan realisiert habe, verstarb die Hauptprotagonistin kurz nachdem wir mit den Dreharbeiten begonnen hatten. Die so entstandene neue Situation erforderte ein komplettes Umdenken und viel Flexibilität.
Der einjährige Aufenthalt in New York hat Ihrem Leben eine neue Wendung gegeben. Inwiefern?
Nach meiner Rückkehr aus New York wusste ich, dass ich nicht mehr auf dieselbe Weise leben konnte wie vor diesem Aufenthalt. In NYC gab es in meiner nächsten Umgebung viele obdachlose Menschen und eine hohe Kriminalität, besonders wegen der äusserst aggressiv machenden Droge ‚Crack’. So habe ich in dieser Zeit die Extreme von grösstem Glück und grösstem Leid und Elend – ganz unmittelbar – erlebt. Ich erinnere mich, dass ich in dieser Zeit fast süchtig nach klassischer Chormusik war. Erst im Nachhinein wurde mir bewusst, dass es dabei um das Schaffen grosser Schönheit aus dem Zusammenschwingen einer grossen Menschengruppe geht. In den vielen Besuchen der grossartigen Museen New Yorks begegnete ich, neben der damals aktuellen Avantgarde, auch den faszinierenden Werken der asiatischen Kunst. Diese hatten eine magische Wirkung auf mich.
Zuhause in der Schweiz begann ich mich mit Zen zu beschäftigen. Daraus ist dann mein erster Film entstanden.
Ihr erster Dokumentarfilm «Schritte der Achtsamkeit» mit Thich Nhat Hanh wurde ein internationaler Erfolg. Was haben Sie von diesem berühmten Zenmeister gelernt?
Diese Frage zu beantworten ist nicht leicht. Zum einen hat die Begegnung mit Thich Nhat Hanh dazu geführt, dass ich dem schon lange gehörten inneren ‚Ruf’ gefolgt bin. Bei der ersten Begegnung mit Thich Nhat Hanh ‚wusste’ ich, dass ich mit ihm einen Film machen würde. Den Traum zu filmen hegte ich seit meiner Ausbildung zum Kunstpädagogen, bin ihm aber nicht gefolgt. Ohne Kenntnisse, wie man einen Dokumentarfilm produziert, begab ich mich mit Thich Nhat Hanh nach Indien und filmte dort seine Pilgerreise. Allein ihn da begleiten zu dürfen, war ein grosses Geschenk. So entstand mein erster Film, der, wie Sie erwähnen, sehr grosse Beachtung fand. Was ich später von Thich Nhat Hanh gelernt habe, ist die Erkenntnis, dass ein Lehrer eine grosse Inspirationsquelle sein kann, ein Schüler jedoch nicht nur Schüler bleiben darf. Thich Nhat Hanhs Lehre der Achtsamkeit machte mir bewusst, dass ich als Schüler auch Lehrer und als Lehrer auch Schüler bin. Ich habe von ihm viel gelernt bezüglich Selbstwahrnehmung und Mitgefühl. Die zahlreichen Begegnungen mit ihm lehrten mich zudem, dass Verantwortung nicht abgegeben werden kann. Mir wurde die Wichtigkeit der Begleitung eines guten Lehrers, einer guten Lehrerin, für eine gewisse Wegstrecke und insbesondere die Eigenverantwortung zum Gehen des eigenen Weges bewusst.
Im Film „Paths of Life“ (Lebenswege), zeigen Sie drei Menschen, die Lebenskrisen konstruktiv verarbeiten. Bleiben Sie auch als Filmer ein Pädagoge? Sie haben ja nach einer Primarlehrerausbildung sich zum Gymnasiallehrer für Bildnerisches Gestalten weitergebildet und einige Jahre an der Kantonsschule Heerbrugg unterrichtet.
Neben meiner Filmarbeit habe ich immer auch als Lehrer an diversen Instituten unterrichtet, wie gesagt an der ZHdK und der ETH, aber auch an den Pädagogischen Hochschulen St. Gallen, Luzern und Zug.
Mit meinen Filmen geht es mir darum, Menschen zu inspirieren und zu bereichern. Es ging nie darum, „mein Ding“ zu machen. Mich interessieren Menschen, die ihren Weg gehen, die sich die Frage stellen, was ihnen wirklich wichtig ist und die bereit sind einen gewählten Weg weiterzugehen, wenn es schwierig wird. Solche Menschen habe ich mit der Kamera begleitet. „Pädagogisch“ bedeutet in diesem Kontext ganz einfach Inspiration, Anregung, das Zeigen von Möglichkeiten, die Ermutigung, das zu tun, was wichtig und Sinn bringend ist.
In «Being There – Da sein» werden vier Menschen aus vier Kulturen gefilmt, die Sterbende in ihrer letzten Lebensphase begleiten. Gibt uns die Auseinandersetzung mit dem Sterben Hinweise, wie wir besser leben können?
Diese Frage bedürfte eines sehr langen Gesprächs…. Ich möchte vorausschicken, dass Filme zu machen für mich ein grosses Privileg bedeutet. Ich durfte viele eindrückliche Menschen kennen lernen. Sie haben mich an ihrem Leben und Denken teilhaben lassen. Das war eine grosse Bereicherung. So möchte ich diese Frage mit den Gedanken eines dieser Menschen, dem Psychiater Alcio Braz, dem ich mit der Kamera in Rio de Janeiro begegnet bin, beantworten:
«Wir alle sterben. Das Problem ist, dass wir gerne so tun, als wäre das nicht wahr. Aber Tatsache ist, dass wir alle eines Tages sterben werden. Die Art, wie wir uns darin üben können, ist, erstens, zu verstehen, dass das Leben ohne Tod wertlos ist. Was dem Leben seinen Wert gibt, ist in Tat und Wahrheit der Tod. Und zweitens, zu verstehen, dass ein ewiges Leben vermutlich sehr unangenehm wäre, etwas Grauenhaftes. So ist es gut zu wissen, dass wir ein Ende haben. Das macht jeden Moment kostbar.
Ich sage immer: Wenn ich jemanden liebe und ich schenke diesem Menschen eine Blume, dann schenke ich ihm keine künstliche Plastikblume, sondern eine wirkliche Blume. Diese blüht zwar nur zwei Tage lang, in diesen zwei Tagen ist sie aber von wunderbarer Schönheit, Kraft und Wahrheit. Ich werde deshalb keine Plastikblume schenken, die zwar 100 Jahre hält, aber wertlos ist. In Wirklichkeit lernen wir also zu sterben, indem wir den Wert des Lebens schätzen und verstehen, dass das Leben in jedem Moment lebenswert ist. Zu sterben ist dann einfach eine andere Seite des Lebens, ein anderer Moment.
Ich denke, die Kunst zu sterben, ist die Kunst zu leben. Denn wenn wir gerne leben, dann sind wir nicht darum besorgt, ob das ewig fortdauern wird oder nicht, wir leben einfach. Ich denke, wenn wir voll und ganz leben, gibt es keinen Grund, Angst vor dem Tod zu haben. Sterben ist dann einfach etwas, worüber man nichts weiss. Die Kunst ist es also zu leben. In jedem Moment wirklich zu leben.»
In Ihrem bisher letzten Film «Sound and Silence» porträtieren Sie ein in Japan lebendes Paar, Toshio (72) und Shizuko (75), die sich als Punkmusiker in der Friedens- und Anti-Nuklear-Bewegung engagiert haben und sich als Freigeister einem konsumistischen Lebensstil entgegenstellen. Sind das Vorbilder für Klimabewegte? Verstehen Sie Ihr Filmschaffen auch als politischen Engagement?
Menschen, denen wir auf der Leinwand begegnen, denen wir sonst in unserem Leben nie begegnen würden, können uns zu wichtigen Fragen zu unserem Sein, Denken, Handeln anregen. So sind meine Filme unterhaltend und auch eine Einladung zur Selbstreflektion. Die beiden Protagonisten Toshio und Shizuko Orimo, in SOUND AND SILENCE, haben offenbar bereits einige KinobesucherInnen dazu angeregt, ihren inneren ‚Ruf’ zu hören. Das darf ich den vielen Zusendungen entnehmen, die ich bekommen habe. Zu erleben, dass ein Film Menschen dazu anregen kann sich zu fragen, was ihr Beitrag zu einem sinnvollen Dasein und einer lebenswerten Welt sei, ist bereits eine grosse Entschädigung für mein Tun und in diesem Sinne auch politisches Engagement.
Wie weiter?
Der Dokumentarfilm, an dem wir zurzeit arbeiten, erzählt die Geschichte vom Leben und Wirken von Elisabeth Lukas, einer der ersten Schülerinnen von Viktor Frankl. Der Film, bei dem wir noch ganz am Anfang stehen, könnte Menschen ansprechen, die auf der Suche nach Sinn und Erfüllung in ihrem eigenen Leben sind. Durch die Erzählung von Lukas› Erfahrungen und ihrem Einsatz für die Logotherapie könnte der Film Inspiration und Orientierung bieten, den grossen Herausforderungen unsere Zeit nicht mit Aktionismus, sondern mit einer sinnvollen Lebensgestaltung, privat und politisch, zu begegnen. Frau Elisabeth Lukas ist eine sehr beeindruckende Persönlichkeit. Ich hoffe, dass es uns gelingen wird, mit ihr einen guten Film zu machen.
Ansonsten habe ich begonnen, ebenfalls angeregt von einem „meiner“ Protagonisten, Marcus Pan, im Appenzellerland eine Permakultur aufzubauen. Das ist eine sehr spannende und befriedigende neue Herausforderung, verbunden mit der grossen Freude zu erleben, wie Insekten aller Art diesen Garten besuchen und schliesslich auch wir selbst unser „eigenes“ Gemüse ernten und geniessen dürfen.
Link zur Website von Thomas Lüchinger: https://rosesforyou.ch/de/start/
Titelbild: Thomas Lüchinger im Garten (Foto: bs)
vgl. auch: Hanspeter Stalder: Besprechung von «Being There – Da Sein»: https://der-andere-film.ch/filme/filme/titel/abc/being-there-da-sein
Im Folgenden einige Impressionen aus dem Permagarten von Thomas Lüchinger (Fotos zVg. von Thomas Lüchinger)