StartseiteMagazinLebensart"Ich habe mich nie gelangweilt!"

«Ich habe mich nie gelangweilt!»

Mit seinem Fahrrad ist Edi Ebersold von der Nordsee aus durch ganz Deutschland bis zum Bodensee pedalt: Eine Individualreise der besonderen Art.

«Wenn jemand eine Reise tut, so kann er was verzählen.» Das fiel schon dem Dichter Matthias Claudius vor bald 250 Jahren auf. Damals reiste noch längst nicht jeder, und wenn, dann gemächlich mit der Postkutsche. Mittlerweile werden selbst die entlegensten Ecken unserer Erde von All-Inclusive-Touristen im Schwuppdiwupp-Tempo heimgesucht.

Beim Start vor dem Haus von Freunden in Hamburg

Einen Akzent dagegen gesetzt hat soeben mein langjähriger Musikfreund Edi Ebersold (64). Für einmal hat er den Geigenbogen beiseitegelegt, mit seinem Drahtesel den Zug nach Hamburg bestiegen und von dort Deutschland bis zurück in die Schweiz nach eigener Planung auf dem Velo durchquert. Keine Pauschalreise, ja nicht einmal eine individuelle Autoreise kann diese ganz persönliche Mischung an Sehenswertem, Kuriositäten und zufälligen Ereignissen bieten.

Allein die Schiffsbegrüssungsanlage bei Hamburg! Da ziehen sie vorbei, die grossen Pötte auf der breiten Elbe am Schulauer Fährhaus in Wedel. Alle ein- und auslaufenden Schiffe mit einer Vermessung von über 1000 Gross Tonnen (GT) werden begrüsst mit der Flagge Hamburgs, der Bundesrepublik Deutschland, der Landesflagge Schleswig-Holsteins und der «Wir wünschen gute Reise»-Signalflagge.

Ein Transportschiff fährt an der Schiffsbegrüssungsanlage vorbei.

Kaum hat sich das Schiff dem Fährhaus genähert, heisst ein Begrüssungskapitän die Besatzung in der jeweiligen Landessprache und mit der Nationalhymne willkommen. Damit nicht genug, «verklickert» der Begrüssungskapitän den Schaulustigen, woher die tonnenschweren Kolosse kommen, wohin sie wollen und was sie transportieren.

Diese Begegnung war eins der ersten aussergewöhnlichen Erlebnisse des Tourenfahrers. Vier Wochen sollte seine Velotour dauern, bis er ohne Elektrounterstützung strampelnd wieder im Thurgau ankam. Mein Freund Edi ist kein trainierter Velosportler. Aber eine Velotour dieser Art war ihm schon lange im Kopf herumgegangen.

Die sieben Hauptgebiete der Velotour

Als er mit der eigentlichen Planung begann, entstand zuerst die Route. Dabei konsultierte Edi diverse Internetportale, zum Beispiel Komoot, Bikemap und Routyou. In Verbindung mit Kartenstudium der Geographie, der Beschaffenheit verschiedener Strassen und Radwege, auch unter Beizug von Google Earth, legte er die einzelnen Etappen fest, immer versehen mit einer Zeitreserve für Unvorhergesehenes. Die Hotels buchte er sämtlich im Voraus und immer im Stadtzentrum.

Der Greifswalder Marktplatz

Auf der To-do-Liste für die Vorbereitung standen überdies noch vier weitere wichtige Stichworte: Training, Navigation, Ausrüstung und Bekleidung. Training hiess mehrere kürzere Testfahrten nach Distanzenberechnung bei Vollpackung des Velos (auch mit Zugfahrt). Edi fuhr zu diesem Zweck vor der grossen Fahrt unter anderem einmal von München zum Donau-Radweg bei Vohburg und dann zurück über Ulm nach Hause. Galt es doch, verschiedene Wetterbedingungen zu erleben oder den Umgang mit dem Navi bei spontanen Routenveränderungen zu üben. Anderen «Stramplern» rät er, vorher auszuprobieren, ob man das gepackte Fahrrad zur Not über einen umgefallenen Baum oder einen Zaun heben kann.

Besuch beim Denkmal für Caspar David Friedrich in Greifswald

Zur Ausrüstung gehörten Velo, Rückspiegel, Reifendruckmesser, Pflege- und Reparatursachen, Pumpe, Kettenöl. Dazu kam das Reisegepäck: Seitentaschen, Lenkertasche, Rucksack, Fotoapparat sowie auch ein altes Handy mit einer digitalen Deutschlandkarte. Wichtig auch die Velobekleidung für alle Wetterbedingungen, Ersatzzeug, sowie Kleider und Schuhe für das Abendprogramm. Zur Navigation benutzte Edi das «Garmin Oregon 700». Es zeichnete seine Route derart akribisch auf, dass auf einem späteren Ausdruck sogar die Schlangenlinien sichtbar sind, die Edi beim steilen Aufstieg zum Beispiel vor Bärnreuth in der Nähe von Bad Berneck gefahren war.

Der Tollensesee in Mecklenburg-Vorpommern: Zehn Kilometer lang und nicht einmal 50 Meter tief.

Als Hauptgebiete, die es zu erkunden galt, kristallisierten sich sieben unterschiedliche Gebiete heraus: Hamburg und ein Teil der Ostseeküste; die Mecklenburgische Seenplatte mit der Prignitz; die Altmark mit der Elbe; die Leipziger Tieflandsbucht und sächsische Weinstrasse; das Erzgebirge, Vogtland und Fichtelgebirge; die Fränkische Schweiz, Franken mit Pegnitz und Main-Donau-Kanal; die Donau aufwärts nach Oberschwaben zum Bodensee.

Vor der Semper Oper in Dresden steht das rote Velo

Zu den vielen Höhepunkten gehören die Hansestädte Wismar, Stralsund und Greifswald mit ihren mittelalterlichen Kirchen und gotischen Giebelhäusern, die im 2. Weltkrieg verschont wurden. Solcherart Stadtbesichtigungen standen im Wechsel mit Naturerlebnissen wie der anspruchsvolle Elbradweg durch das Naturschutzgebiet Hohes Elbufer. Besonders gefallen hat meinem Freund der zehn Kilometer lange Tollensesee südlich von Neubrandenburg. Er gilt als eins der grössten und saubersten Gewässer in Mecklenburg-Vorpommern.

Promenadenbahnhof Leipzig

Aus Dresden bleibt eine Führung durch die Semper Oper unvergesslich. In Leipzig war die Bahnhofführung speziell. Dabei erfuhr Edi, dass 1915 der ehemalige sächsische und der preussische Bahnhof zu einem grossen Bahnhof zusammengefasst wurden, wobei es weiterhin zwei Bahnhofsvorstände gab. Diese trafen sich jeweils morgens in der Mitte bei Gleis 13, um die Zeit zu synchronisieren! Der Leipziger Bahnhof ist 1990 zum «Promenaden-Hauptbahnhof» umgebaut worden. Trotz der Modernisierung sei die alte Bausubstanz und der Charme erhalten geblieben.

 

Wittenberg: Luthers Thesen und Edis Velo

In der Lutherstadt hat Edi sein Velo vor der Thesentür der Schlosskirche Wittenberg pausieren lassen, im Gedenken an den Augustinermönch und Theologieprofessor Martin Luther, der am 31. Oktober 1517 an dieser Tür seine 95 Thesen angeschlagen hatte. Darin sprach er sich gegen den Handel mit Ablassbriefen aus und wurde dadurch zum Urheber der deutschen Reformation.

Wasserkreuz bei Magedeburg

Beeindruckt hat meinen Freund auch das Wasserkreuz bei Magdeburg, wo der Mittellandkanal über die Elbe führt. Oder aber das Kaliwerk bei Zielitz, genannt «Monte Kali» oder «Kalimandscharo».

Der weithin einzige Berg hier besteht aus dem Aushub eines Salzbergwerks

Dieser Salzberg des Werkes Zielitz ist mit einer Höhe von 200 Metern die höchste Erhebung zwischen Magdeburg und der Ostsee. Samstagnachmittags kann man dort eine Bergtour mitmachen. – Edi empfiehlt auch den romantischen Goitzsche-See in Sachsen Anhalt. Er geht auf den ehemaligen Braunkohlentagebau Goitzsche in Sachsen-Anhalt zurück.

Der Goitzsche See in Sachsen-Anhalt

Die imposante Göltzschtal-Brücke der Eisenbahnlinie Leipzig-Hof.

In Bayern solle man den Main-Donau-Kanal nicht vergessen, findet Edi, die 171 km lange Bundeswasserstrasse, die den Main bei Bamberg mit der Donau bei Kelheim verbindet. Die vielen Schleusen und der Schiffsverkehr seien eindrücklich. Schliesslich überraschte den Tourenfahrer Schloss Neuburg an der Donau mit einer Dauerausstellung flämischer Barockmalerei. Da müssen schon früher enge Beziehungen bestanden haben.

Wichtige Wasserstrasse: Der Main-Donau-Kanal

Schloss Neuburg an der Donau

Fazit der Reise: Kein Muskelkater. Viel gesehen und gelernt, auch dass in Deutschland nicht überall Radwege zur Verfügung stehen. Schon deshalb sei eine gute Planung unerlässlich. Die Hotels möglichst alle vorauszubuchen, habe sich bewährt. Dann könne man zu Fuss einen Stadtbummel machen. Der Kilometerzähler sei wichtig. Durch ihn erfährt man, ob genügend Zeit ist für eine Besichtigung. Und die diversen Testfahrten während der drei Vorbereitungsmonate hätten sich bewährt. Eins sei gewiss, sagt Edi: «Ich habe mich nie gelangweilt.»

Titelbild: Edi Ebersold beim Sichten seiner Fotografien nach der Velotour. Foto: Christine Kaiser
Fotos: © Edi Ebersold

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