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Betrachten Sie Kunst mit Gefühl

Ein ausgewiesener Kunstexperte, Roger Fayet, schreibt in seinem Buch «Ästhetik der Rührung» über einen anderen Zugang zur Kunst.

«Erkundungen auf dem Gebiet eines wenig angesehenen Gefühls» – mit diesem Untertitel scheint sich der Autor für das gewählte Thema zu entschuldigen, so wie wir uns oft genug für unsere Tränen der Rührung schämen. Heutzutage gilt es, cool zu bleiben. Kühle ist angesagt – die jungen Leute allerdings, wenn sie an einem Rockkonzert teilnehmen, bleiben dabei keineswegs kühl.

Roger Fayet, Direktor des Schweizerischen Instituts für Kunstwissenschaft SIK-ISEA, lehrt Kunstgeschichte an der Universität Zürich. Als Professor weiss er durchaus, wie er Interesse wecken kann, sei es bei den Lesenden jeden Alters, sei es vor seinen Studierenden im Hörsaal.

An den Anfang stellt er ein Beispiel, das Rührung gleich in verschiedenen Aspekten zeigt: Als Bob Dylan für seine Lieder 2016 den Nobelpreis verliehen werden sollte, war er bekanntlich nicht bereit, in Stockholm zu erscheinen und eine Rede zu halten. Deshalb engagierte das Nobel-Komitee Patti Smith für die Feier der Preisverleihung, wodurch sich die Songwriterin, fast so bekannt wie Dylan, sehr geehrt fühlte. Sie entschied, einen Song von Bob Dylan zu singen, denn ihm sollte die Ehrung ja gelten.

Wer die beiden Grossen der neueren Song-Kultur kennt und schätzt, erinnert sich vielleicht, was nachher darüber berichtet wurde: Patti Smith war während ihres Vortrags so gerührt, dass es ihr einen Moment lang die Stimme verschlug und sie neu beginnen musste. Auch das Publikum wurde von dieser Rührung erfasst, und noch lange nachher sprachen die Teilnehmenden davon und drückten Patti Smith gegenüber ihre eigenen Empfindungen aus, dass diese Momente der Rührung dem Anlass eine ungeahnte Tiefe gegeben hatten.

Roger Fayet geht nicht weiter auf die psychologischen Komponenten von Rührung ein, dieser Mischung von Schmerz, der uns Tränen entlockt, und Glücksempfinden, das uns zugleich erfasst. Er schreitet durch Kunstgeschichte und Philosophie und erläutert an anschaulichen Beispielen, wie Künstlerinnen und Denker mit dem Gefühl der Rührung umgegangen sind.

Nike von Samothrake im Pariser Louvre.

Ohne Arme, hilflos, aber standhaft.

Nebst eigenen Erfahrungen berichtet der Autor von Recherchen anderer Kunsthistoriker. Er nennt James Elkins, der Zuschriften sammelte von Menschen, die beim Anblick von Kunstwerken zu Tränen gerührt waren. Eine Frau hatte geschrieben: «Ich weinte im Louvre vor der Nike von Samothrake. Sie hatte keine Arme, aber sie war so standhaft.» Eine beschädigte Statue, notabene auch ohne Kopf, die zu Tränen rührt. Das regt zum Nachdenken an, was die Rührung hervorrief. – Rührung kann auch rätselhaft sein. Oder ist beim Betrachten ein ganz persönliches Erlebnis wach geworden?

Fayet geht der Geschichte der Wiederentdeckung der Nike nach, wie im 19. Jahrhundert erwogen wurde, die Skulptur vollständig wiederherzustellen. Das Anrührende der Statue liege jedoch in ihrer Versehrtheit, könnten wir Lesenden daraus schliessen. Der Autor hält fest, dass uns fremde, bzw. alte Kulturen nicht hoffnungslos fremd sein können, wenn sie uns derart berühren können.

Gefühle reinigen die Seele – Katharsis bei Aristoteles

Ausführlich widmet sich Fayet der Frage, wie die Philosophie der Antike Gefühle einordnete. Einige hielten Emotionen für «gefährlich» im Hinblick auf das Lebensglück. Aristoteles erkennt, dass ein Redner Gefühle («Affekte») hervorrufen sollte, um Wirkung zu erzielen. Was Rührung angeht, dient sie durchaus der Katharsis, d.h. der Reinigung der Seele, die Aristoteles von der antiken Tragödie fordert. Damit haben sich Dramatiker über viele Jahrhunderte beschäftigt.

Auf seinem Weg durch die Geschichte und die philosophische Betrachtung der Kunst im Hinblick auf ihren Umgang mit den Gefühlen wird klar: Jede Epoche bietet einen reichen Fundus an Darlegungen. Auch René Descartes, der grosse Systematiker des Denkens im 17. Jahrhundert, spricht über die Gefühle: Er nennt sie «Passionen der Seele», dieses Traktat schrieb er auf Bitten einer Freundin. – Heutzutage ist «Les passions de l’âme» ein renommiertes Ensemble für Alte Musik in Bern.

William Turner, Rheinfall bei Schaffhausen 1841

Das Erhabene berührt uns

Bergwanderer mögen nichts Schöneres kennen, als in den Alpen über ein Panorama von Gipfeln zu blicken. Die Wahrnehmung der Schönheit der Landschaft, der Erhabenheit der Natur, ist eine Form der Rührung. Wir spüren dies bei der Betrachtung von Landschaftsbildern. William Turner war einer dieser Meister, dem es gelang, die Stimmungen einzufangen. Wie seine Kunst einzuordnen ist, beschreibt Fayet in seinem Kapitel, indem er Rührung mit dem Gefühl der Erhabenheit in Verbindung bringt.

Tod und Trauer – Berührung im Schmerz

Rührung hat, wie erwähnt, einen Aspekt der inneren Freude und einen des Schmerzes, der Trauer. Der Autor führt dazu die Gedichte von Friedrich Rückert an. Dieser gelehrte Dichter und Professor im 19. Jahrhundert – er hatte orientalische Sprachen studiert, schrieb in persischen Versmassen, übersetzte und unterrichtete an der Universität – musste einen schweren Schicksalsschlag ertragen: zwei seiner Kinder starben kurz nacheinander an Scharlach, wofür es damals kein Heilmittel gab. Um mit seinem Schmerz zurechtzukommen, schrieb Rückert die «Kindertodtenlieder», Gedichte von tiefer Trauer. – Das Gedichteschreiben rettete ihn aus seiner Verzweiflung. Insgesamt schrieb er 563 Gedichte.

Albert Anker, Die kleine Freundin. 1862

Ein Glücksfall für die Musikgeschichte ist, dass Gustav Mahler auf diese Gedichte stiess. Er vertonte fünf von ihnen. Diese Lieder zu hören, berührt die Musikliebhaberin ebenso, wie sie von der Verschmelzung von Inhalt und Musik beglückt ist.

Gleichfalls berührend empfindet der Autor die Bilder von Albert Anker. Auch der Berner Maler aus Ins erlebte den Tod von Geschwistern schon in jungen Jahren. Später verlor er seinen zweijährigen Sohn Rudolf, schliesslich noch den einjährigen Emil. Roger Fayet berührt es sehr, wie der Maler die Tragik dieses Verlustes in seinen Gemälden darstellt.

Kann Rührung kitschig sein, nur rührselig, ohne innere Tiefe? Auch mit dieser Frage setzt sich der Autor auseinander. Expertenwissen und -erfahrung auf der einen Seite und Rührung auf der anderen stimmen wohl nicht immer überein – kein Mangel, findet die Leserin. Wer immer sich mit Kunst beschäftigt, kann dazu Stellung beziehen, mit seinem Wissen, seinen Erfahrungen und seinen Gefühlen. Dieses Buch, das Sie mit Vorteil nicht am Stück, sondern kapitelweise lesen, könnte Ihnen Ansporn sein, Ihrer eigener Wahrnehmung zu vertrauen, sich berühren zu lassen von einem Werk.

Roger Fayet: Ästhetik der Rührung. Erkundungen auf dem Gebiet eines wenig angesehenen Gefühls. Schwabe Verlag 2023. 400 Seiten, 37 Abbildungen.  ISBN 978-3-7965-4813-0.
Auch als E-Book (PDF) erhältlich.

Titelbild mp, alle anderen Bilder: commons.wikimedia.org

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2 Kommentare

  1. Gefühle sind wertvoll und aussagekräftig über eine persönliche aktuelle Empfindung, sie sind jedoch auch im Kontext der Gefühlslage einer Gesellschaft zu sehen. Wie wir empfundene Gefühle interpretieren und einschätzen, wenn sie denn hinterfragt werden, ist meiner Meinung nach immer subjektiv. Jedoch durch die neuen Medien, die einen Zugang zu jeglichen Äusserungen anderer möglich machen, entsteht zunehmend der Wunsch vieler, in einer «Echokammer» des Internets Zustimmung für die eigenen Gefühle und Ansichten zu suchen und auch zu erhalten. Dies gilt natürlich für Emotionen in der Kunst wie auch für all jene Themen, die gerade hochkochen.

    Was einen rührt, manchmal zu Tränen, hängt von vielen Faktoren ab. Z.B. wo wir im Leben gerade stehen. Was für Erfahrungen wir bisher gemacht haben und was uns geprägt hat? Wie sind wir gefühlsmässig veranlagt und fähig, eigene Gefühle zuzulassen und auszudrücken. Bildende Kunst ist nur ein Ausdrucksmittel von vielen über das wir verfügen, um andere zu berühren oder das Gegenteil davon, abzuschrecken. Ich stelle fest, wie brutaler und kälter das eigene oder gesellschaftliche Umfeld empfunden wird, umso heftiger ist der Wunsch nach Ausgleich, will heissen, die Sehnsuch nach einer heilen Welt, die in einer überschwenglichen Rührsehligkeit, möglichst in einer Gruppe wie bei Grossänlässen z.B. bei Musikkonzerten, zum Ausdruck kommt. Je mehr Leute, die euphorisch ihre Gefühle äussern, desto beliebter der Anlass.

    Solche Szenarien wirken auf mich eher oberflächlich und für den kurzen Lustgewinn gedacht. Sei es ein Bild, ein Buch, ein Musikstück, eine menschliche Begegnung oder die Eindrücke in der Natur. Echte BeRührung empfinde ich oft nur in der Stille und sie ist nachhaltig, so dass ich noch lange von diesem Ereignis zehren kann.

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