TEIL 4 DER SERIE «DAMALS – DAS WAR UNSERE SCHWEIZ»
Als Schicksalsausmarchung bezeichneten viele die kürzlichen Bundeswahlen. Doch verglichen mit dem, was vor 84 Jahren auf dem Spiel stand, wirken unsere jetzigen Sorgen arg überzeichnet. Wir zeigen politische Plakate kurz vor dem Zweiten Weltkrieg.
Politik war und ist eine ernste Angelegenheit. Vor Jahrzehnten wie auch heute. Drum präsentieren wir erstes was Heiteres. Der fröhliche Herr warb 1937 für die «S.B.B.» und deren Spezialbillette. Schön und gut. Aber was sehen wir da? Der Mann trägt eine schwarze Maske. Als black facing würde man das heute beschimpfen. Unbeschwert lustig war das damals. Der Anlass: Die Bahn bot günstige Tickets für die Badenfahrt zum 90-Jahr-Jubiläum der ersten Schweizer Eisenbahn, der Spanisch-Brötli-Bahn.
Als die Werbung noch unschuldig war: Passagier mit Hund, Tasche, Schirm
und schwarzem Gesicht.
Werbung spiegelt unsere Gesellschaft. Sie beeinflusst unsere Wünsche, Vorlieben und Tabus. Das sehen wir beim alten SBB-Plakat mit dem schwarzem Gesicht. Heute würde diese Figur einen Shitstorm auslösen. Bei der Politwerbung hingegen hat der Zeitgeist weit weniger verändert. Gestern wie heute präsentieren die Parteien ihre Slogans und ihre Versprechen. Dass heute auf den Wahlplakaten so viel mehr freundliche Köpfe lächeln, verdanken wir der Reproduktionstechnik.
Wir gliedern die Politplakate in zwei Abteilungen. Zum ersten zeigen wir jene zu den Eidgenössischen Wahlen 1939. Zum zweiten bebildern wir die Werbeaushänge zu Sachabstimmungen vor und nach dem Zweiten Weltkrieg.
Soldaten sollen die wehrhafte Schweiz zeigen
Kriegsgefahr, ja sogar Untergang, bedrohten damals unser Land. Doch: Die Wahlplakate aller grossen Parteien präsentieren eine wehrhafte Schweiz, die sich nicht anpassen will.
Anfangs September 1939 hatten die Nazis den Zweiten Weltkrieg ausgelöst und waren in Polen einmarschiert. In der Schweiz warben die nationalistisch orientierten «Fröntler» für eine an Deutschland ausgerichtete neue Verfassung. Gleichzeitig mit dem Kriegsausbruch ordnete der Bundesrat die Mobilmachung an. Und inmitten dieser existenzbedrohenden Situation wählten die Schweizer Männer am 29. Oktober 1939 den National- und Ständerat.
Die Affichen zeigen Soldaten und beschwören den damaligen Widerstandswillen. Später, in den Nullerjahren, warfen Historiker im Bergier-Bericht der offiziellen Schweiz Duckmäusertum und wirtschaftliche Verstrickung mit Nazi-Deutschland vor. Bürgerliche Kreise kritisierten die Studie. Unsere Plakatsammmlung beweist nichts, zeigt aber eine Schweiz, die sich behaupten will.
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Der Freisinn ist hier mit zwei Motiven vertreten. Auf dem ersten weist die Partei mit einem kultisch überhöhten Soldaten auf das militärische Potenzial der Schweiz hin. Die Besonderheit des Landes betont die FdP mit irreal steilen Bergen. Das zweite FdP-Plakat soll die Verbundenheit der Bürger mit der Armee hervorheben. Der Begleittext auf dem oberen Plakatrand kann man durchaus als politisches Bekenntnis verstehen: «Frei nach aussen, Frei nach innen.» 1939 erzielten die Freisinnigen einen Wähleranteil von 22 Prozent.
In unserer Plakatserie fällt auf, dass einzig die SP die Familie einbezieht. Dem damaligen Zeitgeist entsprechend schützt der Soldat die Frau als Mutter. Die Sozialdemokratische Partei hatte sich seit dem Generalstreik 1918 zu einer gemässigten reformistischen Kraft verändert, und 1939 erwarb sie 26 Prozent der Stimmen. Noch in den Zwanzigern war die SP eine klassenkämpferische antimilitaristische Kraft gewesen.
Der Landesring der Unabhängigen war 1939 eine junge Partei. Die 1935 von Migros-Gründer Gottlieb Duttweiler formierte Bewegung verstand sich als Opposition und errang in ihrem Gründungsjahr gleich sieben Nationalratssitze. Beim Plakat 1939 fällt auf, dass der LdU als einzige Partei moderne Gestaltung verwendet. Wir erkennen Bauhaus. Der Landesring brachte es auf 7 Prozent
Die Schweizer Demokraten entstanden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Sie vertraten eine sozial und liberal ausgerichtete Politik und forderten mehr direkte Demokratie. Nach dem Zweiten Weltkrieg verlor die Partei an Bedeutung. Einige Sektionen schlossen sich den Freisinnigen an, andere der BGB und später der BDP. Bei den Wahlen fielen ihnen 3 Prozent zu.
Mit einem optisch sehr eindrücklichen Plakat warb die Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei (heute SVP). Ein knorriges Gesicht in Übergrösse symbolisiert die Schweiz als traditionell geprägtes Land mit fest verwurzelter bäuerlicher Bevölkerung. Verwirrung stiftet die verwendete Frakturschrift. Heute verwenden Neonazis und deren linke Gegner diese gebrochenen Lettern gerne um eine Verbindung zu Nazi-Deutschland herzustellen oder zu karrikieren. Beide Gruppierungen liegen falsch. Die Fraktur war im Hitler-Staat als «undeutsch» sogar verboten. Die BGB brachte es auf 15 Prozent.
Im Vergleich mit der vorherigen Wahl 1935 konnten die BGB und der Landesring zulegen. Einbussen erlitten die SP und der Freisinn.
Die tiefroten Sozis werden vaterländisch
In den Dreissigerjahren entdeckte die SP, dass sie mit Reformen und Referenden mehr erreicht als mit Arbeits- und Klassenkämpfen.
Der Generalstreik 1918 krempelte in den Folgejahren die politische Schweiz um. Bereits ein Jahr später galt für die Eidgenössischen Wahlen erstmals das neue Proporzsystem. Die Freisinnigen verloren dadurch fast die Hälfte ihrer Nationalratssitze. Am meisten profitierten die Sozialdemokraten und die Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei (BGB).
Die Bürgerlichen mit BGB, FdP und Konservativen dominierten die Politik in der Zwischenkriegszeit jedoch weiterhin. Immerhin gelangen es den Sozialdemokraten mit Referenden und Inititiativen sich gegen den bürgerlichen Block zu wehren. Die Kommunisten, die vorher ein Zweig der SP waren, spalteten sich 1921 von der für sie zu zahmen Partei ab. Unter anderem weil sich die Kommunisten weiterhin zu Stalins Sowjetunion bekannten, wurden sie bald bedeutungslos.
In Italien kam 1922 der Faschismus an die Macht, ab 1933 beherschten die Nazionalsozialisten Deutschland. Darauf entstanden auch in einigen Kantonen rechtsgerichtete «Fronten». Zu politischer Bedeutung gelangten diese antidemokratischen Kräfte allerdings nicht.
Die Plakate zur Abstimmung vom 3. Juli 1938 über das Schweizerische Strafgesetzbuch fand bei allen Parteien ausser der CVP Zustimmung. Die Schweizer Männer stimmten der Vorlage mit einer kleinen Mehrheit zu. Bekämpft wurde sie von Föderalisten und Konservativen.
Starkes Bild. Es erinnert an die Nazi-Propaganda in Deutschland. Der Text ist ironisch gemeint «…ein Führer?»
Die Gegner polemisierten mit «Versorgungspalästen». Das erinnert an die heutigen Diskussionen um die «Hotelgefängnisse». Die Abstimmung wurde 1937 angenommen.
Waren die aktuellen Eidgenössischen Wahlen vom vergangenen Oktober wirklich so zukunfsentscheidend, wie manche behaupteten? Wer weiss? Ganz sicher hat aber die Abstimmung vom 6. Juli 1947 die Schweiz umgestaltet. Zum Guten. Damals wollten 80 Prozent der Stimmberechtigten mit der neuen AHV die Altersvorsorge sicherstellen. Ein Jahr später, 1948, brachten die Pöstler den Seniorinnen und Senioren erstmals per Barauszahlung die Renten. Das eindrückliche Plakat unten rechts stammt von Hans Erni (1909-2015). Am gleichen Tag wie die AHV-Abstimmung entschied die Schweiz über neue Wirtschaftsartikel in der Bundesverfassung. Die Vorlage war weitgehend unbestritten und wurde angenommen.
Die AHV-Abstimmung 1947 mit dem Plakat von Hans Erni veränderte die Schweiz. Weniger beachtet wurde der Entscheid über den Wirtschaftsartikel (im Bild oben).
Ausschliesslich Männer äusserten sich 1947 zu diesen beiden Vorlagen. In den Nachkriegsjahren fanden zwar einige Abstimmungen über das kantonale und kommunale Frauenstimmrecht statt. Die meisten scheiterten. Erst ab 1971 durften die Frauen in der ganzen Schweiz an die Urnen.
Alle hier gezeigten Bilder stammen vom Fotografen und Bauernhausforscher Ernst Brunner (1901 bis 1979). Für seine rund 48 000 Aufnahmen bereiste Brunner die ganze Schweiz und Deutschland. Neben Motiven aus der Politik zeigen seine Bilder Menschen bei öffentlichen Anlässen und bei ihrem Alltag.
Der Pöstler, die Intellektuelle, der «Söihund»
Wie wirkte sich die Politik auf den Alltag während der hier beschriebenen Zeiten aus. Der Verfasser versucht dies anhand seiner Familie darzustellen.
Im wesentlichen wars ein schwach sozialdemokratisch geprägtes Leben im unteren Mittelstand im roten Zürich. Der Vater, uniformierter Postbeamter, war Mitglied der Gewerkschaft PTT-Union. Die Familie lebte in einer günstigen Genossenschafts-Wohnung im Stadtteil Wiedikon. Politisch war Steiger nur wenig aktiv. Klar: Am Erst-Mai-Umzug war er in Pöstler-Uniform dabei. Doch sonst spielte die rote Haltung kaum eine Rolle. Als ihn ein SP-Mitglied zum Partei-Eintritt bewegen wollte, wehrte er ab. Später zu meiner Mutter: «Du, der hat mich geduzt, dabei kenne ich ihn gar nicht.»
Vater Steiger war Gewerkschafter, der Grossvater Grütlianer, die Mutter und der Autor als Baby hatten damals, 1946, noch kein Stimmrecht.
Immerhin spielte die linke Ausrichtung bei der Freizeit eine Rolle. Der Vater war Mitglied eines Arbeiter-Turnvereins. Häufig waren er und die Mutter mit den Naturfreunden unterwegs, dem linken Gegenpart zum bürgerlichen SAC. Zweimal reiste die Familie in den späten Fünfzigern mit den Naturfreunden ins ehemals kommunistische, aber blockfreie Jugoslawien.
Politisch hin- und her hüpfte Onkel Antonio, der Schwager meiner Mutter. Er war Italiener. Er war Kommunist. Und er war schwul. Ein italienischer kommunistischer Schwuler also (damals gängige Bezeichnung warmer Bruder oder Söihund). Antonio arbeitete hart an seinem miesen Image. Der gelernte Gipser liess sich per Heirat einbürgern. Er gründete ein eigenes Geschäft und verabschiedete sich von Marx und Lenin. Seine Homosexualität blieb allerdings als Familiengemunkel im Gespräch. Als der 16-jährige Autor während der Ferien als Handlanger Geld für den heissersehnten Grammophon verdienen wollte, runzelten Vater und Mutter die Stirn. Unbegründet. Antonio zeigte keinerlei sexuelles Interesse, kochte aber die besten Ravioli.
Tante Anni bildete den linken Flügel der Familie. Sie war unsere Intellektuelle. Sie zeigte dies, indem sie den Kaffee nur schwarz trank, viele filterlose Zigaretten rauchte und in ihrer Bauhaus-Liege das «Volksrecht» las. Sie soll Juden bei der Flucht in die Schweiz und ihnen hier geholfen haben. So wurde in den Nachkriegsjahren aus der belächelten Frauenrechtlerin unsere Familien-Heldin.
Schliesslich war da noch der Grossvater. Er war Grütlianer. Damit gehörte er einer Arbeiterbewegung an, die nicht marxistisches, revolutionäres Gedankengut vertrat, sondern für die Demokratie eintrat.
Die Schweizerische Gesellschaft für Volkskunde heisst ab sofort Empirische Kulturwissenschaft Schweiz (EKWS). Sie versteht sich als Netzwerk, das alle Akteure zusammenführen soll, die in der Schweiz zu Alltags- und Populärkultur forschen oder diese einer breiten Öffentlichkeit vermitteln.
Seniorweb und die Empirische Kulturwissenschaft Schweiz (EKWS) zeigen die Schweiz von gestern. Die in diesem Beitrag gezeigten Fotos stammen aus den rund 300 000 historische Bilder umfassenden Sammlungen der EKWS. Seniorweb präsentiert thematische Serien mit Aufnahmen aus diesem Archiv. In diesem Beitrag sind es ausschliesslich Bilder des Fotografen Ernst Brunner (1901 bis 1979).
Wer weiss mehr zu diesen Bildern? Auf den Rahmen der hier gezeigten Aufnahmen sehen wir die urspünglichen Vermerke. Die Mitarbeitenden der EKWS-Archive übernehmen diese und ergänzen sie mit weiteren verfügbaren Informationen. In vielen Fällen genügen diese Angaben nicht, um die Bilder zweifelsfrei zu identifizieren. Für die EKWS ist es deshalb hilfreich, wenn sie von der Seniorweb-Leserschaft weitere Hinweise erhält.
Wer Informationen zu diesen Bildern hat, mailt diese bitte an archiv@sgv-sstp.ch
Unabhängig von den Meldungen an die EKWS freut sich Seniorweb über Bemerkungen zum Thema und zur Serie in unserer Kommentarspalte.
Bildnachweis
EKWS, Sammlung «Ernst Brunner», SGV_12N. © Empirische Kulturwissenschaft Schweiz (EKWS)
Links zu den bisher erschienen Serien
Damals – das war unsere Schweiz
Landarbeit war Handarbeit
Frauen kernten putzen nähen, kochen