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Verdingkinder als Krimi-Thema

Der Berner Krimischriftsteller und Initiator des Schweizer Krimiarchivs in Grenchen, Paul Ott, wird im Mai für sein Lebenswerk mit einem «Ehren-Glauser» ausgezeichnet. In seinem 16., eben erschienenen Roman aus der Serie «Detektei Müller & Himmel» dreht sich alles um die Verdingkinderhypothek.

Das Handlungsgerüst des neusten Krimis (Ott publiziert unter dem Pseudonym Paul Lascaux) hat – wie alle Vorgänger – Berner Lokalbezug, nimmt Bezug auf aktuelle Ereignisse und enthält versteckte Anspielungen auf die persönliche Biografie des Autors: Im Zentrum steht diesmal Kaspar Kempf, ein Sammler von Kuriosa und historischen Dokumenten (Ott sammelt selber historische Briefe). Die Schriftstücke stellt Kemp auf seinem Blog vor.

Eines Tages wird der Teilzeitlehrer (auch Ott war bis zu seiner Pensionierung Lehrer) von einer ominösen Gruppe entführt. Das Erpresserschreiben an den Berner Stadtpräsidenten, der im Roman zufälligerweise Alec von Graffenried heisst, enthält wirre Bedingungen, aber keine Lösegeldforderung. Als Markus Forrer von der «Police Bern» einen der mutmasslichen Entführer festnimmt, schweigt dieser beharrlich. Die Zeit läuft Forrer davon.

Ein verlässlicher Kooperationspartner für die Polizei ist stets die Detektei Müller & Himmel. Gemeinsam dringen die Kriminalisten tief in ein dunkles Kapitel der Schweizer Geschichte ein, um den Entführern auf die Spur zu kommen. Anhaltspunkte enthält des Schreiben der Entführer: «Für Kemps Freilassung fordern wir die Einsetzung einer Kommission, welche die Aufarbeitung des Verdingkinderwesens im neunzehnten Jahrhundert betreibt. Die Millionen, die üblicherweise für die Befreiung von Geiseln verlangt werden, sollen in die Erforschung der düsteren Geschichte fliessen… Der Revolutionsrat wird entscheiden, ob Ihr Engagement ausreicht».

Ein historischer Brief, den Kemp erwirbt und in seinem Blog vorstellt, enthält Hinweise auf den Handel mit Verdingkindern. Foto: Pixabay.

Auch Otts neuster Krimi ist voller Lokalkolorit: Die Spezialisten der Polizei arbeiten im Nordring-Quartier. Das Opfer besitzt ein Haus in der legendären Halensiedlung,  zwischen 1957 und 1960 von der berühmten Architektengemeinschaft «Atelier 5» gebaut. Festgehalten wird Kemp in einer Hornusserhütte am Fuss des Bantigers. Der Weg dorthin wird vom Autor pingelig genau beschrieben. Sogar die Fahrverbotstafeln stimmen mit der Realität überein.

Nicht nur der Entführte, auch Privatdetektiv Heinrich Müller hat unübersehbare Gemeinsamkeiten mit dem Krimiautor. Er besitzt, wie Paul Ott, einen schwarzen Kater namens Lucy, liebt die Punk- und Hardrock-Musik der siebziger Jahre und kauft seine Brötchen in der Bäckerei Bohnenblust im Breitenrain-Quartier, wo auch Ott wohnt. Die Krimifantasie aus seinem eigenen, nächsten Umfeld, seinen Lebensumständen zu schöpfen, ist eine der typischen Eigenheiten des Berner Schriftstellers, die sich durch die meisten seiner Werke zieht. Selbst der ermittelnde Polizist Forrer pflegt eine Vorliebe, die er mit dem Paul Ott gemeinsam hat: Das Anrichten und Geniessen feiner Gerichte und edlem Wein.

«Berner Gerechtigkeit» spielt in der Stadt Bern und deren Umgebung. Foto: Pixabay.

Typisch für Otts Romane sind auch vertiefte historische Analsyen: Zitiert wird aus einem historischen Brief, in welchem von Verdingkindern die Rede ist, die von Sumiswald (Emmental) nach Niederbipp (Oberaargau) verschickt wurden.

Im neusten Krimi beschreibt der Schriftsteller auch die Funktion von Chorgerichten: «Diese wurden von Geistlichen geführt und hatten die Aufgabe, über das sittliche Leben der Bevölkerung zu wachen und Verstösse dagegen zu ahnden. Oft hatten sie es mit unehelichen Kindern zu tun, die nicht legitimen Beziehungen entsprungen waren.» Die aus dem Mittelalter stammenden Sittengerichte hatten im Kanton Bern Bestand bis 1831. Zusammen mit den Gemeindebehörden spielten sie eine wichtige, traurige Rolle bei der Verschickung von Verdingkindern. Mit der Schaffung von Einwohnergemeinden und der Institutionalisierung der weltlichen Justiz wurden sie glücklicherweise abgeschafft.

Eine Verhandlung vor dem Sittengericht. Aquarellierte Federzeichnung mit Deckweiss von Heinrich Freudweiler, um 1790. Quelle: Kunsthaus Zürich / Historisches Lexikon der Schweiz.

Zurück zum Krimi: Der weitere Verlauf der Tätersuche führt die Protagonisten ins Berner Lorrainebad, aber auch nach Guggisberg. Freiheitstrychler werden zu einem Thema, die wachsende Zahl an Überwachungskameras in der Stadt und in deren Umland auch. Wie der Roman «Berner Gerechtigkeit» ausgeht, sei an dieser Stelle nicht verraten. Eines aber ist garantiert: Spannung auf 211 Seiten. Wer Krimis mit Lokalkolorit, gemischt mit aktuellen gesellschaftlichen Bezügen liebt, dem sei die Neuerscheinung wärmstens empfohlen. Es dürfte nicht das letzte Werk Otts mit autobiographischen Elementen sein.

Als Krimiautor debütierte Paul Ott 1987, schon damals unter dem Pseudonym Paul Lascaux. Der Name erinnert an die Höhlen in Südfrankreich, die einige der ältesten Wandzeichnungen der Menschheitsgeschichte enthalten. Das Pseudonym kommt deshalb nicht von ungefähr: In Otts Erstlingswerk ging es um ein auffälliges Skelett, das während archäologischer Ausgrabungen gefunden wurde.

Ein grosser Traum erfüllte sich für Ott vor zwei Jahren: 2021 öffnete das von ihm initiierte Schweizer Krimiarchiv Grenchen die Türen. Sein persönliches Archiv bildet mit rund 1000 Büchern den Grundstock des Krimiarchivs, das Schreibende aller vier Landessprachen berücksichtigt. Aktuell sind über 2500 Titel vorhanden. Die Sammlung wird laufend ergänzt und auch um Sekundärliteratur und Nachlässe erweitert.

Wichtigste Krimi-Auszeichnung im deutschsprachigen Europa

Für sein Lebenswerk erhält Paul Ott (Foto PS) nun – völlig zu Recht – den diesjährigen «Ehren-Glauser»: Die Jury des SYNDIKATS hat dem Schriftsteller, Organisator, Herausgeber und Literaturwissenschaftler den Preis «in Würdigung seines herausragenden Engagements für die deutschsprachige Krimiszene» zuerkannt. Die Auszeichnung wird am Mittwoch, den 15. Mai 2024, während der 39. CRIMINALE in Hannover überreicht.

Begründung für den Preis

«Die Schweiz ist ein Staat mit vier offiziellen Landessprachen, einer Menge Berge und eigener Währung inmitten der Europäischen Union, wenn auch unabhängig von ihr. Das stellt die EinwohnerInnen, SchriftstellerInnen und natürlich auch die Krimischaffenden vor eine ganze Reihe von Problemen.»

Wer Krimis auf Deutsch veröffentlicht, müsse sich oft Verlag und Publikum ausserhalb des Landes suchen, um ein Auskommen zu haben. Von daher sei der unermüdliche Einsatz von Paul Ott für die Kriminalliteratur in der Schweiz seit mehr als zwanzig Jahren besonders hoch zu bewerten und auch für die anderen deutschsprachigen Länder bedeutsam, heisst es in der Begründung deer Jury.

Paul Ott: Berner Gerechtigkeit. Kriminalroman, Gmeiner-Verlag, Messkirch, 2024. 224 Seiten, 23.90 Fr. Vernissage: 22. Februar, 20 Uhr, Orell Füssli, Bern.

Titelbild: Zwei Heimknaben 1944 bei der Arbeit in Kriens. Foto: Paul Senn © FFV, Kunstmuseum Bern, DEP, GKS.

 

 

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1 Kommentar

  1. Danke für Ihren interessanten Beitrag; er macht neugierig. Ich werde mir den neusten Krimi für meinen Sohn besorgen in der Hoffnung, dass er das Lesen von Büchern doch noch entdeckt.

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