«Die Physiker» von Friedrich Dürrenmatt gehört zu den am meisten aufgeführten Theaterstücken der Schweiz. Regisseur Mathias Spaan, gelingt am alten Berner Stadttheater eine beeindruckende Inszenierung, die sich aus einer Komödie über eine Groteske in eine Tragödie entwickelt.
Dürrenmatt schrieb «Die Physiker» 1961, auf dem Höhepunkt des Kalten Kriegs. Im Jahr der Kubakrise (1962), als die Welt vor einem atomaren Schlagabtausch stand, wurde das Stück am Zürcher Schauspielhaus uraufgeführt. Im Zentrum standen damals wie heute die Verantwortung der Wissenschaft für den Missbrauch von Innovationen durch Politik und Militär, aber auch der Umgang mit Macht und die fehlenden Einflussmöglichkeiten des Einzelnen in einer immer chaotischeren, unkontrollierbaren Welt.
Berühmte Physiker wie Otto Hahn, Robert Oppenheim, Albert Einstein und Werner Heisenberg hatten in den dreissiger und vierziger Jahren in ihren wissenschaftlichen Arbeiten die Grundlagen für den Bau der Atombombe gelegt, die dann von den Militärs in Ost und West entwickelt und eingesetzt wurde. Viel zu spät bereuten die Wissenschaftler, mit ihren Formeln Massenvernichtungswaffen sowie die Zerstörung der Welt möglich gemacht zu haben.
Drei angeblich verrückte Wissenschaftler
Zum Inhalt des Stücks: In einer verlotterten Villa des privaten Sanatoriums «Les Cerisiers» halten sich drei offensichtlich verrückte Physiker auf. Einer behauptet, Einstein zu sein (David Berger), der zweite hält sich für Newton (Vanessa Bärtsch) und dem dritten, Möbius (Claudius Körber), erscheint täglich König Salomo.
Möbius (rechts) erhält Besuch von seiner Ex-Frau und den drei Söhnen (in blau).
Innerhalb von nur drei Monaten werden zwei Pflegerinnen umgebracht. Die mutmasslichen Täter, Herbert Georg Beutler (alias Newton) und Ernesti (alias Einstein) zeigen keine Reue, als Inspektor Richard Voss (Martin Butzke) auftaucht und die Verbrechen untersucht. Letzterer kommt zum Schluss, dass die Insassen nicht zur Rechenschaft gezogen werden können, weil sie unzurechnungsfähig sind.
Der dritte Physiker im Bund, Johann Wilhelm Möbius, hat die Weltformel entdeckt, die aufzeigt, wie alle physikalischen Bedingungen des Seins grundlegend zusammenhängen, wie Existenz funktioniert. Doch Möbius fürchtet um den Missbrauch seiner Entdeckung. Was tun, wenn Erfindungen nicht mehr zum Nutzen der Menschheit eingesetzt werden, sondern aufgrund von Gewinnsucht und Machtgier zu deren Zerstörung?
Psychiatrieärztin und Oberpfleger
Die einzige Möglichkeit, Verantwortung für seine Entdeckung zu übernehmen, sieht Möbius in der Flucht in die Irrenanstalt. Auch er gibt vor, verrückt zu sein. Doch der Versuch scheitert, und der Wissenschaftler wird zum Spielball unterschiedlichster Machtinteressen.
Chefärztin Doktor Mathilde von Zahnd will die Weltformel stehlen und die Macht an sich reissen.
Als auch Oberpfleger Peter (Jonathan Loosli) umgebracht wird, eskaliert das Zusammenleben im Sanatorium zur Groteske. Chefärztin Doktor Mathilde von Zahnd (Isabelle Menke) reisst die Macht an sich. Da outen sich zwei der drei angeblich verrückten Wissenschaftler als Agenten fremder Mächte, die sich in die Irrenanstalt einweisen liessen, um an die Weltformel zu kommen.
Kurzerhand wird das schummelnde Trio von der besessenen Oberärztin in ein dunkles Gefängnis gesteckt. Nun ist sie im Besitz der Weltformel und kann die Welt regieren – oder zerstören. Das Stück, das als Komödie begonnen hat, endet als weltpolitische Tragödie.
Fantasievolle Kostüme
Die Inszenierung des Hausregisseurs von Bühnen Bern, Mathias Spaan, geht unter die Haut: Zu Beginn stolpern die vermeintlichen Wissenschaftler in Unterhosen und mit wehenden Haaren über die Bühne, während die Oberärztin in strengem Weiss das Kommen und Gehen der Gäste kontrolliert. Derweil bedient sich der blondierte Oberpfleger an den Fressalien und Raucherwaren der Insassen und sympathisiert immer grad mit demjenigen, der ihm nützt. Das Spiel nimmt seinen Lauf und an Übersteigerung zu. Selbst Kriminalinspektor Voss irrt, die Staatsmacht vertretend, hilf- und ideenlos von Delikt zu Delikt, worauf die Oberärztin süffisant feststellt: «Die Gerechtigkeit ist in den Ferien».
Möbius, der Erfinder der Weltformel, verirrt sich im Nebel und in den Intrigen.
Mit viel Fantasie und Geschick gestaltet sind die Kostüme (Dominique Steinegger). Je wichtiger die Rolle, desto ausgefallener die Kleidung, hat man den Eindruck. Ebenso funktional wie grandios kommt das Bühnenbild (Anna Armann) daher: Phantastisch, wie das Sanatorium an Seilen in den Schnürboden schwebt und sich als Gefängnis wieder auf die Bühne senkt. Aus der verlotterten Klinik wird ein dunkles Verlies, in dem die drei Hauptfiguren zusammen mit der Wahrheit verschwinden. Von einem Gefängnis in ein anderes.
Aktuelle Interpretationen
Die Berner Inszenierung ist mehr als eine Warnung vor Missbrauch wissenschaftlicher Erfindungen zur Erringung der Weltherrschaft oder vor einem Atomkrieg. Sie ist – mit Gegenwartsbezug interpretiert – auch eine Warnung vor Despoten wie Donald Trump und Diktatoren wie Wladimir Putin, Aljaksandr Lukaschenko, Kim Jong-un und Baschar al-Assad, die täglich ihre Macht missbrauchen und Menschenrechte mit Füssen treten. Das jüngste Verbrechen an Alexej Nawalny im fernen Sibirien klingt hier wie ein Mahnmal.
Die von Mathias Spaan extra für diese Produktion mittels KI entwickelte, 13zeilige Weltformel (Seite 12 im Programmheft) spielt auf weitere, aktuelle Bedrohungen wie algorithmus-gesteuerte Kriegsdrohnen, künstliche Intelligenz, Umweltzerstörung, Computer-Viren, chemische und biologische Kriegsführung an. Dürrenmatts Physiker ist ein zeitloser Kassandraruf vor dem Bösen.
Tragisches Ende: Die Protagonisten landen im Verlies, die Weltformel wurde Möbius gestohlen.
Vor diesem furchterregenden Hintergrund wirkt die Aussage von Johann Wilhelm Möbius mehr als beklemmend: «Unsere Wissenschaft ist schrecklich geworden, unsere Forschung gefährlich, unsere Erkenntnis tödlich. Es gibt für uns Physiker nur noch die Kapitulation vor der Wirklichkeit. Wir müssen unser Wissen zurücknehmen. Es gibt keine andere Lösung, auch für euch nicht.»
Stadttheater Bern, bis 17.5.2024
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Titelbild: Kriminalinspektor Richard Voss befragt Newton. Alle Fotos: Florian Spring