Hoch oben im Norden Skandinaviens leben rund 140 000 norwegische, schwedische, finnische und russische Samen, Angehörige einer ethnischen Minderheit. Wie ihre Vorfahren halten sie Rentiere und ziehen mit den Herden durch die karge Landschaft. Seniorweb hat in Mehamn, an der russischen Grenze, eine Familie besucht.
Eleonore erzählt aus ihrem Nomadenleben.
“Bures boahtin Mehamn.“ Herzlich begrüsst uns Eleonore, eine rund 60-jährige Sami-Frau, in ihrer traditionellen Tracht vor ihrem Erdhaus. Neben ihr steht Lule, die 14jährige Nichte mit Hund Jambo. Die beiden Frauen laden uns ein, ihre Sommerwohnung zu betreten. Der hohe Innenraum ist düster, aber gemütlich eingerichtet. Holzbalken halten das schwere Dach, in der Mitte befindet sich eine Feuerstelle mit Kamin. Rund um eine langen Tisch nehmen wir auf Holzhockern, gepolstert mit Rentierfellen, Platz.
„Bures boathin. Herzlich willkommen. Gerne erzähle ich Ihnen von unserer für Sie ungewöhnlichen Lebensweise,“ fährt die Gastgeberin in gebrochenem Englisch fort. „Als erstes möchte ich mich bei der Natur bedanken, dass wir Menschen hier, im Einklang mit der Erde, der Sonne und dem Mond, leben dürfen. Und ich hoffe, dass auch Sie dafür dankbar sind und die Natur um Erlaubnis bitten“.
Rentiere beim Weiden.
In den folgenden sechzig Minuten gibt uns Eleonore einen sympatischen Einblick in das Nomaden-Leben ihrer Grossfamilie: In Mehamn geboren, hat sie zusammen mit ihrem Ehemann drei erwachsene Kinder und sieben Enkel. Acht weitere Samenfamilien leben in ihrer direkten Umgebung. Gemeinsam besitzen die zehn Familien 8000 Rentiere, die auf den Hügeln, zwischen Seen und Felsen weiden. Wieviele Tiere ihrer Familie gehören, will uns die Frau nicht verraten. „Ich frage sie ja auch nicht nach ihrem Vermögen“, antwortet sie mit einem diplomatischen Lächeln auf meine indiskrete Frage.
Den Winter über im Zelt
Gastfreundlicher Empfang im Erdhaus.
Von April und Oktober leben die norwegischen Samen an der Barentsee, an der Küste. Wenn der erste Schnee fällt, ziehen sie mit ihren Herden Richtung finnische Grenze, nach Süden. Andere Samen sind assimiliert und leben vor allem vom Fischfang. Auf ihrer Wanderung durch den Winter übernachten Eleonore und ihre Familie in Zelten. Regelmässig schlachten sie Tiere und essen deren Fleisch.
Rentierwurst (links) und Rentierfilet.
Dazu trinken sie Kaffee, den sie in Lederbeuteln aufbewahren. „Meine Mutter wollte, dass ich Krankenschwester werde. Gegen ihren Willen habe ich das Kunsthandwerk erlernt. Ich nähe heute Rentierfelle, imprägniere sie mit Weidensaft, stelle Schuhe her, Messer, Holzgefässe und webe Decken“, erzählt Eleonore. Auch ihre farbige Tracht und den chicen Hut hat sie selbst gefertigt.
Handgefertigter Lederschuh.
Man spürt den Stolz der beiden Frauen, zur samischen Minderheit zu gehören. „Nach 200 Jahren Unterdrückung dürfen wir endlich unsere traditionelle Kultur leben, unsere Sprache sprechen, unsere Kinder so erziehen, wie es unsere Vorfahren getan haben,“ sagt die Gastgeberin und fährt fort: „Als die ersten weissen Siedler im 19. Jahrhundert Nordskandinavien eroberten, begannen sie, unser Volk zu unterdrücken, genau wie die amerikanischen Siedler mit den Indianern verfuhren.“
Trauriges Kapitel
Dänische Missionare zwangen die Lappen (wie die Minderheit damals genannt wurde) zur Taufe. Für die fremden Beamten aus Oslo waren sie Sklaven, mussten Steuern bezahlen, Fleisch und Fisch abgeben. Ihre Sprache durften sie nicht sprechen, die Trachten nicht mehr tragen, ihre Naturreligion wurde verboten. 1850 war der Tiefpunkt der Beziehungen zur samischen Bevölkerung.
Kaffeebeutel.
Aufgrund der Diskriminierung verhinderte Deutschland 1948 den Beitritt Norwegens zur UNO-Menschenrechtsdeklaration. Der Beitritt wurde erst möglich, nachdem Norwegen 1950 seine Gesetzgebung geändert und die Samen als gleichberechtigten Bevölkerungsteil offiziell anerkannt hatte. Ein wichtiger Schritt in der politischen Teilhabe erfolgte 2003 mit der Gründung eines samischen Parlaments. Anlässlich der ersten Sitzung entschuldigte sich König Harald im Namen des Staates bei den Samen für das begangene Unrecht.
Heute besitzen die Samen eine eigene Flagge, begabte Künstlerinnen und Künstler aus Malerei, Literatur und Gesang. Das touristische Interesse an der samischen Eigenart und Kultur ist gestiegen.
Zahlen und Joik
Lule mit Hund Jambo.
Zum Schluss unseres Besuchs lehrt uns Nichte Lule auf Samisch von 1 bis 5 zählen: „‚Okta, guokte, golbma, njeallje, vihtta…“. Darauf verabschiedet uns Eleonore mit einem „Joik“, dem traditionellen samischen Gesang. Ein typischer Joik zeichnet sich durch einen rezitativischen Gesangsstil, Wiederholungen und Variationen auf der Grundlage von kurzen Formeln und speziellen Gesangstechniken aus. Die Liedform erinnert an den alpenländischen Jodel.
Feiertage und Festivals
Während der samischen Woche wird jeweils am 6. Februar in Tromsø alles Samische in Verbindung mit dem Nationalfeiertag gefeiert. Vor allem im Sommer gibt es in Skandinavien einige samische Festivals. Wir kommen wieder.
Titelbild: Heute ist die samische Minderheit in Norwegen gleichberechtigt und darf ihre Eigenart frei leben. Foto ZVG, alle anderen Fotos PS.
Bildergalerie:
Die nachfolgenden Fotos wurden am 7.6.24 von Nina Tiefenbacher in einer Sami-Ausstellung in Tromsø aufgenommen. Klicken Sie auf das Foto unten, dann öffnet sich das Galerie-Modul. Mit den Pfeilen rechts oder links = die Fotos vorwärts oder rückwärts bewegen.
Das ist ein sehr interessaner, und was die Bilder anbelangt, schöner Bericht! Danke vielmals dafür
Pia Horstink, Baden
Sehr interessant! Danke lieber Peter für spannende Geschichte!
Bitte, sehr gerne.