Albanien ist erst seit 1991 ein offenes und demokratisches Land. Nach Jahren der Diktatur und Isolation ist es nun auf der Suche nach seiner Identität und seiner Beziehung zu Europa. Eine Entdeckungsreise (Teil 1)
Tirana ist gleichzeitig das moderne und das alte Gesicht des Landes. Kommunistische und faschistische Protzbauten treffen auf kapitalistische Bürotürme aus Beton, Stahl und Glas. Das Herz der Stadt ist der riesige Skanderbegplatz. Die Et’hem-Bey-Moschee duckt sich vor den neuen Hochhäusern. Doch nur ihr Minarett hat im Wettstreit nach Höhe eine Chance auf Beachtung.
Seit 1920 ist Tirana die Hauptstadt des Landes. Die Einwohnerzahl stieg von nur 25 000 Menschen im Jahre 1938 bis auf 250 000 im Jahr der Befreiung 1991 und bis heute auf etwa 700 000.
Der Sommer hat begonnen – Strassen und Plätze sind voll von flanierenden Menschen. Muslimas tragen islamische Mode, sie gehören zum Stadtbild wie die E-Scooter. Die Nation scheint sich im abendlichen Ausgang, dem Xhiro, zu feiern. Die jungen Menschen sind selbstbewusst. Viele Männer tragen gestutzte schwarze Bärte und kleine Gruppen von Girls zeigen sich bauchnabelfrei. Bis lange nach Mitternacht wummern die Bässe der Technomusik. An Schlaf ist im Hotel, das an den Platz angrenzt, nicht zu denken. Wir sind hier im Balkan, wo die Menschen emotionaler sind und rasch ausgelassener feiern. Es gibt so viele Anlässe zum Feiern. Geburtstage, Heirat und Beschneidung, erklärt unser Reiseleiter. Niemand stört sich an lauter Musik.
Rund um den riesigen Platz urbane Wahrzeichen. In Tirana stehen wenige Hochhäuser, noch kein geschlossenes Quartier. Einzig das Riesenrad macht dem Reiterdenkmal des Nationalheld Skanderbeg Konkurrenz.
Bei einer Stadtwanderung vom zentralen Skanderbeg-Platz zum Mutter-Teresa-Platz bummelt man durch grosszügige Fussgängerzonen unter mächtigen Linden, die zur Blütezeit die halbe Stadt betören.
Etwas abseits ein einsamer Flötenspieler. Und in der Ecke des Parks eine alte Frau, die graue Abfallsäcke verkauft. Sie spricht mich an und zeigt durch Gesten, dass es ihr schlecht gehe und sie sich vom bunten Treiben ausgeschlossen fühle. Doch andere Zeichen von Armut sind nicht zu sehen. Kontraste in dieser Gesellschaft zeigen sich dennoch. Die dunklen Karossen vor dem Hotel International tragen meist Schilder aus den benachbarten Balkanstaaten. In Tirana treffen sich der Balkan und das westliche Europa.
Wir schlendern durch den modernen Basar, dem alten Vorbild nachempfunden – eine Einkaufsmeile mit Boutiquen, Andenkengeschäften, Cafes und Restaurants. Dahinter ist der traditionelle Basar zu finden, mehr für die Bedürfnisse der Einheimischen mit Kleidern, Waren des täglichen Bedarfs bis hin zu einer Motorradwerkstatt.
Ein riesiges klassizistisches Gebäude, ein Casino mit Hotel, steht protzig neben der noch im Bau befindlichen Autobahn.
Auf der Taxifahrt vom Flughafen weist der Fahrer mit Stolz auf die Niederlassungen internationaler Firmen. Man sieht auch ausländische Kliniken und Akademien, türkische und amerikanische beispielsweise. Albanien hat sich der Welt gegenüber geöffnet. Bis 1991 durfte niemand ein Auto haben; Nachrichten aus dem Ausland waren unter Androhung von schweren Strafen verboten. „Wir waren das europäische Nordkorea, eingesperrt und isoliert. Während mehr als vierzig Jahren litt praktisch jede Familie unter dem Staatsterror der Diktatur Enver Hoxhas“, erklärte unser albanischer Reiseleiter.
So hat die demokratische Entwicklung des Landes erst vor zwei Generationen begonnen. Die heutige Regierung unter dem Premierminister Edi Rama strebt eine Mitgliedschaft bei der EU an. Albaniens Hauptproblem ist die stark verbreitete Korruption.
In einem Bunker werden in einer Ausstellung Bunk’Art 2 die Schrecken der Diktatur dokumentiert.
Mitten in der Stadt findet man verrostete Bunker aus kommunistischer Zeit – landesweit soll es zweihunderttausend davon geben. Enver Hoxha und seine Politik waren paranoid. Es gab immer wieder Säuberungswellen. Ein grosser Teil der Elite kam ins Gefängnis oder wurde exekutiert. Im sogenannten „Haus der Blätter“ befand sich einst die Abhörzentrale der albanischen Geheimpolizei Sigurimi.
Eine umfangreiche Ausstellung zeigt die technischen Einrichtungen einer Abhörzentrale der kommunistischen Staatsdiktatur.
Albaner, die über das Leid und das Unrecht dieser Zeit sprechen, fügen am Schluss eine kurze Bemerkung an: „… leider war das so“. Es ist aber kaum eine stärkere Emotion zu spüren. Es scheint, dass schmerzhafte Erfahrungen zur Entlastung ins Unbewusste verschoben werden, würde ein Psychotherapeut wohl dazu anmerken. Dass die Akten noch unter Verschluss sind, könnte ein Hinweis darauf sein.
Die Siedlung der ehemaligen Parteibonzen ist heute öffentlich. Der Stalinismus hat aber offensichtlich noch Anhänger. In einem Garten, etwas versteckt, wartet ein Standbild des Diktators, bis es wieder in Mode kommt.
Albanien zählt ungefähr drei Millionen Einwohner, davon rund ein Viertel in der Hauptstadt. Hier ist das urbane Zentrum des Landes. Es besteht ein starker Gegensatz zu weiten Teilen des Landes, die dünn besiedelt sind. Dort spielt die Landwirtschaft die Hauptrolle und die Lebensweise ist traditionell.
Titelbild: Ausschnitt aus dem Mosaik «Die Albaner» an der Hauptfassade des Historischen Nationalmuseums in Tirana. Wikicommons
Fotos: Justin Koller
Der zweite Teil des Reiseberichts durch Albanien «Geschichten vom albanischen Land» folgt am 12. Juli 2024.