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Bundesrat muss für die Umsetzung des Urteils sorgen

 «Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) sind verbindlich. Da gibt es nichts zu rütteln.» Das sagt die Völkerrechtlerin und Spezialistin für Menschenrechte, Prof. Dr. Helen Keller, im Gespräch mit Anton Schaller zum EGMR-Urteil über die Beschwerde der Klimaseniorinnen. 

Die Schweiz verletze die Menschenrechte, weil sie zu wenig gegen den Klimawandel tue. Zu diesem Schuldspruch kam der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), als er die Beschwerde der Schweizer Klimaseniorinnen beurteilte. Der Verein Klima Seniorinnen Schweiz sowie vier ältere Frauen und Mitglieder hatten Beschwerde gegen die Schweiz eingereicht, weil sie die Gesundheit der Bevölkerung gefährde, insbesondere die der älteren Menschen und damit Menschenrechte verletzte. Auf die Beschwerde der vier individuellen Beschwerdeführenden Frauen trat der Gerichtshof nicht ein, aber auf die des Vereins. Das Urteil schlug in der Schweiz wie eine Bombe ein. Strassburg habe sich nicht in die Politik der Schweiz einzumischen, schon gar nicht sie zu verurteilen, argumentierten Politiker, Juristen und konservative Menschenrechtler. 

Anton Schaller sprach mit Prof. Dr. iur. Helen Keller, Völkerrechtlerin und Spezialistin für Menschenrechte. Sie forscht im Bereich Klimaschutz und Menschenrechte. Und in diesem Zusammenhang von Bedeutung: Helen Keller war von 2011 bis 2020 Richterin am EGMR in Strassburg. Heute lehrt sie wieder an der Universität Zürich. 

Helen Keller, in der Zwischenzeit hat sich der Pulverdampf um das Urteil etwas verzogen. Sind die weiteren Diskussionen mit den Erklärungen im Parlament, nach denen das Urteil zu ignorieren sei, vom Tisch? 

Prof. Helen Keller: Im Moment noch nicht. Es ist die Aufgabe des Bundesrates, für die Umsetzung des Urteils zu sorgen. Der Bundesrat (gemeinsam mit der Bundesverwaltung) arbeitet einen Plan aus, der dann dem Ministerkomitee unterbreitet wird. Das Ministerkomitee überwacht die Umsetzung aller Urteile des EGMR. 

Es ist nach Ihnen das erste internationale Urteil, das eine Verbindung zwischen Klima und Menschenrechten herstellt. Aus welchen Gründen steht ein solcher Entscheid dem Gerichtshof in Strassburg zu – oder anders, ist er gar dazu verpflichtet? 

Der EGMR hat sich nicht gemeldet, um diese Frage zu beantworten, sondern die Beschwerdeführer sind mit dieser Frage an den Gerichtshof gelangt. Richterinnen und Richter sind verpflichtet, wenn alle Eintretens-Voraussetzungen erfüllt sind, die ihnen vorgelegten Fragen zu beantworten. Rechtsprechung ist kein Rosinenpicken! Man kann sich nicht einfach aussuchen, was man entscheidet. 

Störend für viele Kritiker in der Schweiz war, dass sich die Klimaseniorinnen durch Umweltorganisationen beraten und finanziell unterstützen liessen. Fliessen solche Erkenntnisse in die Urteilsfindung ein? 

Da müssen Sie mir vorweg erklären, warum das störend ist. Diese Verfahren sind aufwendig, und zwar sowohl fachlich wie auch finanziell. Die Beschwerdeführer haben vor dem EGMR rund 320’000 Schweizer Franken Verfahrenskosten und Auslagen für die anwaltliche Vertretung geltend gemacht. Zugesprochen hat der EGMR ihnen rund 80’000 Euro, das heisst auch, dass sie auf rund einer viertel Million sitzen bleiben. Ohne die Unterstützung einer finanzkräftigen Organisation wäre das gar nicht möglich. Beschwerden von Umweltorganisationen sind im Übrigen in der Schweiz um ein Vielfaches erfolgreicher als von Einzelpersonen. Das kann man nur damit erklären, dass bei Umweltorganisationen sehr viel Fachwissen konzentriert ist. 

Inwiefern spielte es nach Ihren Gerichtserfahrungen in Strassburg eine Rolle, dass es Seniorinnen waren, die eine Beschwerde einreichten, weil sie alt bzw. besonders betroffen sind? Inwiefern änderte es die Beurteilung des Gerichtshofs, dass sie auch als Organisation Beschwerde führten? 

Der Gerichtshof hat die Legitimation, also die Klagebefugnis, des Vereins von derjenigen der Einzelpersonen getrennt. Er hielt fest, dass die Klimaseniorinnen, obwohl sie statistisch gesehen stärker von den negativen Auswirkungen der Klimaerwärmungen betroffen sind, nicht klagebefugt sind. Der Gerichtshof hat aber gleichzeitig auch gesehen, dass er mit diesem Entscheid möglicherweise eine Rechtsschutzlücke schaffen würde. Es würde keinen Sinn machen, die Klagebefugnis bei einem Problem, von dem immer mehr Menschen betroffen sind, immer strenger zu formulieren. Deshalb hat der Gerichtshof es zugelassen, dass ein Verein – unter bestimmten Bedingungen – zur Beschwerde legitimiert ist. Es ging also am Schluss nicht mehr nur um die Klimaseniorinnen, sondern um alle Generationen, vor allem die jüngeren und die zukünftigen. 

Für Ständerat Daniel Jositsch ist es nicht die Aufgabe des Gerichtshofs, über eine solche Beschwerde zu entscheiden, weil Umweltprobleme politische Fragen seien. Das Urteil schwäche zudem die Glaubwürdigkeit des internationalen Gerichts. Geht der Gerichtshof in Strassburg geschwächt aus der Auseinandersetzung hervor, weil sich die Schweiz anschickt, das Urteil zu ignorieren? 

Menschenrechtsfragen haben immer auch eine politische Dimension. Wenn man mit diesem Argument den EGMR bekämpft, könnte er gar keine Urteile fällen. Es ist aber gerade die Aufgabe des EGMR zu überprüfen, ob die Menschenrechte in Europa eingehalten werden. Der EGMR anerkennt, dass seine Rolle im Klimaschutz limitiert ist. Er überlässt der Schweiz einen weiten Ermessenspielraum bei der Auswahl der Mittel für die Erreichung der Klimaziele. Aber die Einhaltung der Klimaziele sind verbindlich. Die Frage, ob der Gerichtshof nun gestärkt oder geschwächt ist, lässt sich nicht einfach beantworten. Woran wollen wir denn die Stärke, resp. die Schwäche messen? Alle nationalen Gerichte, die sich für einen stärkeren Klimaschutz ausgesprochen haben, haben die Auseinandersetzungen mit ihren Regierungen und Parlamenten schadlos überstanden 

Oder ist er gar gestärkt, weil er ein Land verurteilt, das zu wenig gegen den Klimawandel tut?  

Vielleicht muss man eher fragen, ob die Menschenrechte durch dieses Urteil gestärkt worden sind. Das würde ich klar bejahen. 

Wie hat die Schweiz nun konkret zu reagieren? 

Rechtlich ist die Sache klar: Urteile des EGMR sind verbindlich. Da gibt es nichts zu rütteln. 

Welche Möglichkeiten stehen den Klimaseniorinnen offen, wenn der Bundesrat den Erklärungen des Parlaments folgt und das Urteil nur zur Kenntnis nimmt 

Im Verfahren vor dem Ministerkomitee sind die Klimaseniorinnen nicht mehr Partei. Das ist ein Verfahren zwischen der Schweiz und den Mitgliedern des Ministerkomitees, also auch kein gerichtliches, sondern ein politisches Verfahren. Die Klimaseniorinnen können sich aber beim Ministerkomitee mit einer Stellungnahme einbringen, wenn sie der Ansicht sind, die vorgeschlagene Umsetzung genüge nicht. Ultimativ steht den Klimaseniorinnen dann wiederum der Rechtsweg offen. Sie müssten dann argumentieren, dass durch die mangelhafte Umsetzung des ersten Urteils ihre Menschenrechte nochmals verletzt worden sind. 

In der stark beachteten, öffentlichen Auseinandersetzung zwischen Ihnen und Ständerat Daniel Jositsch (SP) kamen zwei grundverschiedene Rechtsauffassungen zum Ausdruck. Eine dynamische Rechtsentwicklung aufgrund der lebensbedrohlichen Umweltverschmutzung durch Sie und das Beharren am Status Quo durch Jositsch. Ist das eine Generationenfrage? 

Naja, Daniel Jositsch und ich gehören wohl der gleichen Generation an. Es ist aber wahrscheinlich schon so, dass sich jüngere Menschen häufiger vom Klimawandel bedroht fühlen als die älteren Semester. 

Eine letzte Frage: Wie hätten Sie gestimmt, wenn Sie noch am Gerichtshof in Strassburg tätig gewesen wären? War in Ihrer Amtszeit eine Verbindung zwischen Klimaschutz und Menschenrechte noch nicht so relevant bzw. von dieser Bedeutung wie heute?  

Das ist eine schwierige Frage. Als Richterin ist man Teil eines Organs, das um einen Entscheid ringt. Da sind die Argumente und der Schlagaustausch mit den Kolleginnen und Kollegen während der Beratung entscheidend. Ohne dass ich bei dieser Urteilsberatung dabei gewesen bin, masse ich mir deshalb kein Urteil an. Zu meiner Amtszeit standen Fragen des Umweltschutzes im Vordergrund. Diese Rechtsprechung hat der Gerichtshof konsequent auf den Klimaschutz übertragen. Aus dieser Optik betrachtet überzeugt mich das Urteil. 

Titelbild: Prof. Dr. Helen Keller (60) lehrt Öffentliches Recht, Europa- und Völkerrecht an der Universität Zürich. Bild: Uni ZH

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3 Kommentare

  1. Wenn sich der Pulverdampf verzogen hat, muss man nachladen und weiterschiessen……

    M.E. hat sich der EGMR da eine ultra vires Entscheidung geleistet, und solche sind bestens geeignet, sich auf Dauer selbst obsolet zu machen.
    All die supranationalen Gerichte sind ohnehin höchst fragwürdige Einrichtungen.

  2. ich bin so froh, dass hier kompetent, nachvollziehbar und politisch über dieses thema informiert wird.
    die miesmacher aus der bürgerlichen ecke, allen voran die überhebliche fraktion svp/fdp glauben immer noch, die schweiz sei der bauchnabel der schweiz.

  3. …., die Schweiz sei der Bauchnabel der Welt, sollte es wohl heissen.
    Ja, ich bin auch dankbar, dass Anton Schaller bei dieser kompetenten Fachfrau zum Urteil des EGMR nachgefragt hat. Menschenrechte bleiben Menschenrechte, egal wer oder was sie verletzt und wir sollten dankbar sein, dass es europaweit eine anerkannte Institution gibt, die unsere Rechte verteidigt und schützt. Klimaveränderungen wirken sich immer drastischer auf das Leben auf unserem Planeten aus und das Gleichgewicht in der Natur droht zu kippen. Aus diesem Grund müssen die schädlichen Auswirkungen mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln bekämpft und Zuwiderhandlungen gegen den Klimaschutz geahndet werden.

    Wer insgeheim denkt, das Klima ist mir doch egal, nach mir die Sintflut, hat nicht kapiert, dass die Flut schon längst anrollt und wer sich nicht an ein Urteil des wichtigsten Gerichtes in Europa hält, zweifelt die geltenden demokratischen Regeln an. Die Schweiz ist ein kleines Land auf dem Europäischen Kontinent und keine Insel und sie hat nachweislich ihre im Pariser Klimaabkommen ratifizierten Ziele nicht erreicht. Der Schutz für die Bevölkerung ist deshalb ungenügend und die Regierung muss sich erklären. Aber so lange unser Umweltminister lieber mit der einflussreichen Auto- und Energielobby zusammen arbeitet und die Autobahnen ausbauen sowie neue Atomkraftwerke aufstellen will, gehts rückwärts in die Zukunft, trotz Volkswillen zu einem JA für Strom aus alternativen Quellen und zum Naturschutz. Herrn Rösti und seiner konservativen Gefolgschaft gehts doch wieder einmal nur ums Recht haben und natürlich um Geld und Machterhalt resp. Machtausbau. Meine Meinung.

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