Was am 1. August, dem Nationalfeiertag, selten zur Sprache kommt, diskutierten Fachleute der Geschichtsforschung Ende Juni 2024 im Sissacher Kulturbistro Cheesmeyer. Sie thematisierten die «koloniale Vergangenheit» der Schweiz.
Der Basler Historiker Georg Kreis erörterte, wie die Schweiz von der kolonialen Ausbeutung europäischer Mächte profitierte und ihre enge Verflechtung mit dem «Rest der Welt» unterschätzt. Diese Tendenz zeige sich auch in andern Ländern. Mit der Vorstellung vom Sonderfall richte die Schweiz ihre Aufmerksamkeit aber besonders auf eigene Verdienste. Im Vergleich mit klassischen Kolonisatoren wie Grossbritannien, Frankreich oder Belgien habe sie sich zwar offiziell aus kolonialen Aktivitäten herausgehalten. Private Akteure seien jedoch «im Kielwasser der Kolonialpolitik anderer Staaten mitgeschwommen», hätten sich mit günstigen Rohstoffen früh industrialisiert und lange der Verantwortung entzogen. Kreis führt das auch in der Studie Blicke auf die koloniale Schweiz aus.
Der St. Galler Historiker Hans Fässler erinnerte dann an den St. Galler Hieronymus Sailer, der sich schon 1518 am Sklavenhandel («Asiento de negros») mit dem spanischen König Karl V. beteiligte. Der Vertrag besiegelte die Deportation von 4000 Versklavten nach Amerika. Pro Kopf der Bevölkerung berechnet, sei die Schweiz kolonial sogar stärker verflochten gewesen als Frankreich, wenn wir den Plantagen- und Sklavenbesitz, den Handel mit kolonialen Gütern, militärische und administrative Kooperationen mit Kolonialmächten sowie Investitionen in den Dreieckshandel einbezögen. Gleichwohl schreibe Journalist Markus Somm (in: «Warum die Schweiz reich geworden ist», Bern 2022), unsere Baumwollindustrie habe mit der Sklaverei nichts zu tun gehabt. So verklärt, erscheine die Schweiz «als Volk von hart arbeitenden Hirten und Unternehmern, fernab von den Konflikten dieser Welt», zog Fässler sein Fazit.
Dazu äusserte sich spontan aus dem Publikum der Schriftsteller Martin R. Dean, dessen Roman Tabak und Schokolade am 17. September in den Buchhandel kommt. Schweizer Söldner trieben laut Dean «noch Anfang des 20. Jahrhunderts ihr Unwesen». Von 1815 bis 1914 kämpften rund 7600 Schweizer Söldner in niederländischen Kolonien. Vor allem im heutigen Indonesien sowie in der Karibik und im Surinam. Ihre Aufgabe bestand darin, «Rebellionen auf den Plantagen europäischer Handelsgesellschaften niederzuschlagen».
Aber was sagen solche Befunde über die Gegenwart aus? Und warum sollen wir uns mit ihnen auseinandersetzen? Darauf ging die Historikerin Rachel Huber ein, die an der Universität Bern forscht Sie hat sich auch mit General Sutter (1803-1880) befasst. Er war für sie «ein Hochstapler und Krimineller». Mehr Mühe bekunde die Schweiz mit Mutigen, die sich für Unterdrückte einsetzten. Zum Beispiel Paul Grüninger. Der leitende Grenzbeamte rettete zwischen 1938 und 1939 mehrere hundert Flüchtende vor dem Holocaust. Ja, unsere Vergangenheit gehe uns etwas an, so Huber. Und wenn wir uns mit dem Sklavenhandel und dem Imperialismus oder der katholischen Inquisition befassten, verstünden wir auch eher, warum unsere Gesellschaft heute noch antisemitisch und rassistisch geprägt sei.
Fazit: Die Rückschau hilft, globale Verknüpfungen der Schweiz wahrzunehmen und zu prüfen, ob sie den bei uns angestrebten Standards entsprechen. Dazu ist wohl eine neue Initiative nötig, die Konzerne zu mehr Verantwortung verpflichtet. Wichtig ist zudem die Sensibilität dafür, wie «Altlasten der Kolonialzeit» weiter wirken und wir alle gefährdet sind, uns über andere zu erheben. Das greife ich dann gerne in meiner eigenen 1. August-Rede auf: am 31. Juli 20.15 Uhr in Kaiseraugst.
PS: Zum Thema «China verstehen» gastiert am Donnerstag, 29. August 2024 im Kulturbistro Cheesmeyer (Sissach) Barbara Lüthi. Sie leitet im Schweizer Fernsehen den Club und war früher China-Korrespondentin. Am Gespräch, moderiert wie gewohnt von Ueli Mäder, nehmen auch die Chinesisch-Lehrerin Brigitte Koller und der Sinologiestudent Joshua Gossweiler teil.
Titelbild: Ueli Mäder. Foto: Christian Jaeggi
Wer die Ansprache unseren Kolumnisten Ueli Mäder an der Bundesfeier in Kaiseraugst hören will, kann hier die Einladung der Gemeinde herunterladen.
Die erwähnten Bücher:
Georg Kreis: Blicke auf die koloniale Schweiz. Chronos-Verlag, Zürich 2023,
ISBN 978-3-0340-1717-6
Martin R. Dean: Tabak und Schokolade. Atlantis-Verlag, Zürich 2024,
ISBN 978 3 7152 5039 7
(Der Autor Martin R. Dean stellt sein Buch am Samstag 26. Oktober 11 Uhr im Cheesmeyer vor.)
Ich bin dankbar, dass das Thema ‹die Schweiz und der weltweite Kolonialismus› wieder einmal öffentlich zur Sprache kommt. Der Profit und der Wohlstand den die Schweiz aus früheren und aktuellen Ausbeutungen anderer Völker erzielt(e), sollte meiner Meinung nach auch Thema in der Politik und an den Schulen sein, damit die Schweiz und ihre Verstrickungen im Kolonialismus, realistischer und ehrlicher kommuniziert wird.
Dazu beitragen würde auch eine strengere Gesetzgebung ohne Schlupflöcher und regelmässige Kontrollen der weltweit tätigen Schweizer Unternehmen, die auf Kosten armer Produzenten Milliarden verdienen, wie z.B. Nestlé, der weltgrösste Nahrungsmittelkonzern und das grösste Industrieunternehmen der Schweiz. Aber auch Banken und Versicherungsgesellschaften, wie auch Grossverteiler wie Migros, Coop, Lidl etc. müssten die Lieferketten der Warenströme und ihre Gewinne, wie auch ihre Verbindungen zu Politiker:innen im In- und Ausland und der Wirtschaft, transparenter machen und in den Medien für alle offen legen.
Ganz zuerst möchte ich Ihnen beipflichten, Herr Mäder, dass die Konzerne in der Pflicht stünden. Allerdings hat “das Volk” auch diese Initiative abgelehnt. Unverständlich, dafür echt.
Hingegen möchte ich mich und damit vermutlich auch 99% der Schweizerinnen und Schweizer verwahren, die Verantwortung für sogenannte Altlasten der Kolonialzeit mitzutragen. Wir sind nicht alle ehemalige Sklavenhändler und auch nicht durchwegs Rassisten und Antisemiten. Nicht einmal die gut 27%-igen.
Nicht nur die Eidgenossen fühlen sich eher als andere. Vielleicht etwas mehr, weil der Mix aus verschiedenen Richtungen lange Zeit sehr gute Resultate brachte. Eine Folge der Völkerwanderung, die Schweizer ein Volk von Fusskranken, die einfach nicht mehr weiterkonnten oder wollten? Die Mischung bringts anscheinend. In meiner Jugendzeit hatten beinahe alle Maurer einen italienischen Namen und heute hat man ihre Herkunft längst vergessen. Früher nannte man den Abwascher in der Küche Bimbo, aktuell ist der Angestellte immer noch farbig, aber morgen eröffnet er bereits ein Bistrot mit afrikanischer Küche. Seit es Familien, Völkergruppen und Nationalstaaten gibt, werden auch Unterschiede besonders gewertet. Alles braucht eben seine Zeit und einige missbrauchen diese Zeit, um jene herabzusetzen, die noch nicht angepasst sind.
Ob der Vater von Linth Escher mit seinem Sklavenhandel die Gründung der Kreditanstalt mit ermöglichte, ist ungewiss. Aber wenn der gewusst hätte, wie eine dermassen bahnbrechende Idee verkommen kann, wenn sie den falschen Leuten in die Hände gerät! Gott sei Dank hiess sie später Credit Suisse. Meinetwegen kann der Alfred Escher weiterhin auf dem Sockel vor dem Bahnhof im Weg stehen.
Ob Mäder in seiner 1. Augustansprache auch die Neuzeit anspricht? Es ist noch nicht vergessen, die Altlast der Kolonialzeit aus den 90er-Jahren des 20. Jahrhunderts. Dabei ging es zum einen um Rüstungsgeschäfte mit dem Apartheidstaat Südafrika, welche sowohl die schweizerische Gesetzgebung als auch die UNO-Sanktionen unterliefen. Gründer und Präsident der menschenverachtenden Organisation ASA hiess Christoph Blocher. Ob Ueli Mäder ihn vom Sockel stürzen wird, ist ungewiss. Vielleicht dauert es wiederum gegen 200 Jahre, bis die Historiker zur Einsicht gelangen.