Kein grosses Ereignis hatte mich an den Rand des Odenwalds geführt, nach Weinheim an der Bergstrasse und nach Heidelberg, nur ein kleines Familientreffen und der Wunsch, meine Erinnerungen aus Studentenzeiten aufzufrischen.
Spektakulär war meine Reise in keinem Moment, im Gegenteil, wir suchten eher die stillen Orte in der Natur. Spazierengehen war wichtiger, als inmitten von Touristengruppen Sehenswürdigkeiten anzuschauen.
Wer von Basel aus nach Deutschland fährt, hat zu seiner Rechten den Schwarzwald, dessen Berge bei entsprechender Witterung wirklich schwarz wirken können. Zur Linken, jenseits der für Schweizer Verhältnisse weiten Oberrheinischen Tiefebene sieht man die «Schwestern» des Schwarzwalds: die Vogesen, etwas rauher als der Schwarzwald, mit dem Grand Ballon (Grosser Belchen) als höchstem Berg. Der Schwarzwälder Belchen ist nach dem Feldberg der zweithöchste Gipfel. Dass die beiden ein Dreieck mit dem Belchen im Schweizer Jura bilden, habe ich erst vor kurzem erfahren (s. Beitrag von Ruth Vuilleumier). Eine Vorstellung, die mir gut gefällt: Die drei Berge stehen unverrückbar für die Verbindung der drei Länder.
Wildblumen am Wegrand
Wir fahren weiter bis an den nördlichen Rand des Landes Baden, das erst seit 1952 mit Württemberg zusammen ein deutsches Bundesland bildet. Während im Süden, im grösseren Umkreis von Freiburg im Breisgau noch kleine Hügel wie Tuniberg, Batzenberg oder Kaiserstuhl die Weite der Rheinebene unterbrechen, wird unser Blick beim Nordwärtsfahren höchstens von möglichen Staus auf der Autobahn gestört. Schliesslich biegen wir ab, um nach Weinheim zu fahren. Hier ist die Ebene so weit, dass die Ausläufer der Vogesen in der Ferne verschwinden. Sogar die Industrietürme von Ludwigshafen wirken im Dunst der Sommerhitze irreal.
Giersch, ein scheinbar nutzloses Kraut, formt seine Blüten zu Spitzendeckchen.
Die Landschaft am westlichen Fusse des Odenwalds heisst Bergstrasse, sie zieht sich bis Darmstadt hin, seit Urzeiten besiedelt. In den kleinen Dörfern und Städten herrschten Landwirtschaft, Obstbau, auch Weinanbau vor neben Handwerk und Kleinindustrie. Wir steigen in Lützelsachsen aus, früher eine kleine selbständige Gemeinde mit einem sehenswerten Rathaus, heute in Weinheim eingemeindet. Ich wundere mich über den Ortsnamen. In Sachsen geboren, erstaunt es mich, hier, im äussersten Nordbaden, «Sachsen» zu finden. – Eine Kuriosität der Sprachentwicklung über Jahrhunderte zeigt sich in diesem Namen: Der Ortsname ist seit dem 9. Jahrhundert in einem alten Klosterkodex belegt. Er geht auf einen Grundbesitzer zurück, der wohl Sachso hiess, damals ein nicht unüblicher Name, – keine Verbindung zu «meinem» Sachsen.
Das frühere Rathaus in Lützelsachsen / wikimedia.org
In Lützelsachsen, wenige Höhenmeter oberhalb des Ortes, wachsen Reben, aus denen Lützelsachsener Spätburgunder entsteht, ein Wein, der in Deutschland «bis Bremen» geschätzt werde, erzählte man mir. Aber nicht bis Bern! – Oberhalb der Weinberge beginnt der Wald. Die Menschen in dieser Gegend sind freundlich und gesprächig. Ob alles stimmt, was sie mir erzählen, muss ich später selbst nachprüfen.
Im Schlosspark von Weinheim
Uns zieht es an diesen heissen Tagen in schattige Gefilde: Im nahen Weinheim locken der grosse Schlosspark mit prächtigen alten Bäumen, daneben der Hermannshof, eine Art Botanischer Garten, dichtbepflanzt mit Stauden und dazwischen ebenfalls schönen Bäumen. Schliesslich lockt mich der Exotenwald: Er fordert Musse und gutes Schuhwerk, belohnt mit beeindruckend grossen Bäumen aus aller Herren Länder. An einem schönen Sommertag nach ausgiebigem Regen glänzt alles im Licht und lädt zum Meditieren über die Kraft der Bäume ein, über ihren beständigen Platz in der Natur – scheint es doch, als würden sie fast bis in den Himmel wachsen.
Exotenwald in Weinheim
Mir wird bewusst, wieviel Symbolik wir im Baum erkennen können: Er schlägt seine Wurzeln tief in die Erde, um aufrecht zu wachsen. – Wenn ich als Mensch mir nicht bewusst mache, dass ich bei allem Tun und Denken nicht den Boden unter den Füssen verlieren darf, werde ich im Leben keinen festen Stand finden. Der Baum wächst höher als die meisten Pflanzen, braucht Luft und Licht, gibt zugleich vielen Lebewesen, Pflanzen wie Tieren und Kleinlebewesen Raum, sich zu entwickeln. Wäre es nicht auch die Aufgabe von uns Menschen, allem Leben, Menschen, Tieren, Pflanzen, ein artgerechtes Leben zu ermöglichen? Und schliesslich speichert der Baum seine Erinnerungen. Mit der Interpretation der Baumringe beginnt meines Wissens ein guter Teil unserer Forschungen zu Menschen- und Naturgeschichte.
Erinnerungen wollte ich selbst auch auffrischen: In Heidelberg habe ich vor Jahrzehnten mein Studium abgeschlossen. Die Mensa steht immer noch wie damals. – Als ich in Heidelberg zu studieren begann, war das Zeughaus gerade zum Studentenrestaurant umgebaut worden. Selbstverständlich hat sich die Universitätsstadt seitdem verändert, ist jedoch immer noch mühelos wiederzuerkennen. Der Platz vor der Universität, wo damals zuweilen Wasserwerfer gegen die protestierenden Studenten auffuhren, sieht ordentlich aufgeräumt und grün aus. Die Strassenbahn, mit der ich damals zur Uni fuhr, musste einer Fussgängerzone weichen.
Seerosen im Schlosspark Weinheim
Ob Robert Bunsen, nach dem der gleichnamige Brenner benannt ist, damals schon ein Denkmal erhalten hatte, weiss ich nicht mehr. Er und Gustav Robert Kirchhoff, beide gemeinsam Erfinder der Spektralanalyse, und viele andere gehören in die Reihe der Heidelberger Professoren, die sich über die Grenzen hinaus einen Namen gemacht haben. – Um darüber nachzudenken, spazieren wir über den gleichfalls berühmten Philosophenweg und geniessen die Aussicht auf das Heidelberger Schloss, von dessen alten Mauern sich schon die Romantiker vor 200 Jahren inspirieren liessen.
Dann geht’s wieder südwärts zurück in die Schweiz.
Titelbild: Heidelberger Schloss / wikimedia.org
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