Bern ist berühmt für seine UNESCO-geschützte Altstadt. Dass es in einem Untergeschoss der Universität auch antike Statuen aus griechischer und römischer Zeit gibt, wissen nur die wenigsten. Zu Besuch bei der Archäologin Josy Luginbühl im Reich der Götter, Göttinnen und Philosophen.
Josy Luginbühl, promovierte Archäologin und Kuratorin der Berner Abguss-Sammlung, ist erst 36jährig. Aber ihr Fachwissen reicht mehr als 2000 Jahre zurück, in die Zeit der Griechen und Römer: In den Katakomben eines Uni-Gebäudes an der Hallerstrasse 12 im Berner Länggass-Quartier liegt ein antiker Schatz verborgen. Im Reich der über 200 Gips-Statuen und -Köpfe von Göttinnen und Göttern, Philosophinnen und Philosophen, von Soldaten und schönen Frauen ist die Archäologin zu Hause.
Berner Odyssee
Wie kamen die Objekte nach Bern? Josy Luginbühl erklärt: «Ihren Anfang nahm die Antikensammlung im Jahr 1806, als der alte Stadtstaat Bern die Abgüsse als Vorlage für die Zeichenschule der Berner Akademie in Paris bestellte.» Im Lauf der Jahre wuchs die Sammlung kontinuierlich an. Ab 1864 wurden die Figuren während fünfzehn Jahre im Bundes-Ratshaus, dem heutigen Bundeshaus West ausgestellt, bevor sie 1879 in das neu gebaute Kunstmuseum einzogen.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts verloren museale Gipsabgüsse allerdings an Popularität. Ihnen fehlte es laut der Direktion des Kunstmuseums angeblich an Echtheit. So wurden die Kopien in den 1930er Jahren aus dem Museum verbannt. Für eine noch drastischere, endgültige Lösung plädierte der bekannte Maler und damalige Co-Direktor, Cuno Amiet: «Diese Gipse soll man in die Aare werfen, sie verderben nur den guten Geschmack unserer heutigen Künstler», liess er verlauten.
Eingang zur Antikensammlung in der Berner Länggasse.
Doch dazu sollte es nicht kommen: Nach einer Zeit der Zwischenlagerung auf dem Estrich des Gymnasiums Kirchenfeld rettete in den 1970er Jahren der damalige Leiter des Archäologischen Seminars der Universität Bern, Professor Hans Jucker, die Sammlung und machte diese wieder der Öffentlichkeit zugänglich. Seit 1994 befindet sich die Antikensammlung am heutigen Standort, in den ehemaligen Lagerräumen des Kartenverlages Kümmerli & Frey. Die Studiensammlung ausgewählter antiker Originale wurde 2018 zusammen mit dem Institut für Archäologische Wissenschaften an die Mittelstrasse 43 umgezogen, wo bald eine neue Sonderausstellung eröffnet werden wird.
Wer ist Josy Luginbühl?
Heute ist Josy Luginbühl Hüterin über die 200 Statuen, Köpfe, Wandreliefs im Berner Untergrund. Sie hat sich seit ihrer Jugend für das Leben und den Alltag in früheren Jahrhunderten interessiert. Politische oder kriegerische Ereignisse waren weniger ihr Ding. Nach der Matura studierte sie an der Universität Bern Archäologie und im Nebenfach Kunstgeschichte.
Während des Studiums arbeitete sie als Tutorin und Hilfsassistentin, organisierte für das Institut Veranstaltungen wie beispielsweise die Teilnahme der Antikensammlung an der jährlichen Museumsnacht. Nach dem Masterabschluss absolvierte sie einen Forschungsaufenthalt in Rom und erhielt in Bern eine Stelle als wissenschaftliche Assistentin der Antikensammlung. In dieser Zeit schrieb sie ihre Dissertation über die Lese- und Schreibfähigkeit der Römerinnen.
Büste eines Dioskuren.
Archaik und Klassik
Den Rundgang durch die Sammlung beginnen wir in der archaischen Zeit, rund 700 bis rund 500 Jahre vor Christus: «Als die Perser im Jahr 490 vor Christus Athen überfielen, wurden viele Statuten beschädigt und beim Wiederaufbau der Stadt für die Terrassierung verwendet», erklärt Josy Luginbühl. Dank dieser Rettungsaktion blieben sie der Nachwelt erhalten. Die Statuen der Archaik seien sehr symmetrisch gefertigt und hätten charakteristische, mandelförmige Augen. Wer darin ägyptische Züge sieht, hat nicht unrecht.
Frauenstatuen sind aufwändig frisiert, reich bekleidet und mit Schmuck ausgestattet. Trotzdem wirken die Idealformen rein, eher kalt und einfach. Die männlichen Pendants wurden zumeist nackt dargestellt. Typisch für diese Epoche ist das sogenannte «archaische Lächeln», so die Archäologin.
Die Kuratorin und Kaiser Augustus.
Auf die Archaik folgte die Epoche der Klassik (490/480 bis circa 330 vor Christus). Deren Bildsprache ist freier und dynamischer. Die Gesichter wirken individueller, entspannter, Statuen zeigen Gesten und stellen Themen dar. Die überlebensgrosse Statue von Kaiser Augustus (mit Panzer / 31. v. Chr. bis 14. n. Chr.) wirkt ernst, wie es sich für einen Kaiser gehört. «Jede Dynastie hatte ihren Stil», erklärt Josy Luginbühl: Die Soldatenkaiser blickten streng in die Welt. Die Philosophenstatuen haben fast alle einen Bart und machen einen nachdenklich-intellektuellen Eindruck. Bei Pollux, einem der Dioskuren, sind Locken sowie Iris-Abdrücke erkennbar. Der Kopf ist konstantinisch.
Dann lenkt sie meine Aufmerksamkeit auf eine kniende Boxerfigur beim Eingang. Die Statue wurde 2016, zum 210jährigen Jubiläum der Antikensammlung in Deutschland bestellt und nach einem Original, das sich im Thermenmuseum in Rom befindet, extra gegossen. Speziell an der Figur ist die bronzefarbene Bemalung. Unübersehbar auch der Gesichtsausdruck: Der Boxer schaut leidend auf die Besuchenden, kein Wunder: er hat eine gebrochene Nase und Narben im Gesicht. Der emotionale Blick und die Geste sind typisch für die hellenistische Periode.
Der Boxer und die Archäologin.
Modelle für den Zeichnungsunterricht
Doch wer besucht die Antikenausstellung? Josy Luginbühl erklärt: Die Büsten und Statuen dienten Schulklassen im Zeichenunterricht als Modelle. Ausserdem seien sie auch wertvolles Anschauungsmaterial für junge Archäologinnen und Archäologen, die dank den Figuren ihre Kenntnisse der antiken Bildsprache erweitern könnten, und für die Allgemeinheit. Hinzu kommen öffentliche und private Führungen sowie Veranstaltungen wie die Berner Museumsnacht. 2019 fand in den Räumen eine Sonderausstellung unter dem Titel «Facing History – Kulturgeschichte im Dialog» statt.
Antike Köpfe vor einem Wandbild des Deutschen Bundestags. Aus der Ausstellung «Facing History».
Josy Luginbühl hat sich ihr Wissen über die Antike systematisch während ihres Studiums angeeignet. Heute ist sie nebenberuflich Teil des Sammlungs- und Vermittlungsteams auf Schloss Spiez sowie als Sammlungsbetreuerin auf Schloss Thun. Als Kuratorin hat sie auch schon Ausstellungen mitbetreut. Ausser Lesen gehört Reisen zu ihren grossen Leidenschaften: Auf der «Bucketlist» steht Pompeji, wo sie noch nie war.
Josy Luginbühl.
Und wie sieht ihre berufliche Zukunft aus? Ihre wissenschaftliche Assistenzstelle läuft demnächst aus. Josy Luginbühl kann sich vorstellen, ein «Postdoc» zu machen, in einem Museum zu arbeiten oder sich im Bereich der antiken Provenienzforschung um eine Stelle zu bewerben. Wurden die wertvollen Objekte von Grabräubern auf dem Schwarzmarkt verkauft? Kamen die Museen auf legalem oder halblegalem Weg in deren Besitz? Durch welche (privaten) Sammlungen sind die Objekte gegangen? Welche Personen waren involviert? Was ist die Geschichte der Objekte vor und nach ihrer Ausgrabung/Freilegung? Die Erwerbsketten der antiken Ausstellungsstücke hätten sie schon immer interessiert, sagt sie.
Die Herkunft der Berner Büsten und Statuen ist klar dokumentiert. Die Kulturgüter wurden nachgegossen, stammen aus Nachlässen oder wurden vereinzelt auf dem freien Markt angekauft. Originale besitzt die Universität Bern nur wenige. Es handelt sich dabei vorwiegend um griechische Vasen, Metallfiguren und um einige Schätze aus der etruskischen und römischen Periode.
Man spürt es auf Schritt und Tritt: Josy Luginbühl ist mit Leib und Seele Archäologin und eine begabte Geschichtenerzählerin. Die Vermittlung von Wissen und das Begeistern für die Vergangenheit ist ein wichtiger Teil ihres Lebens.
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Titelbild: Josy Luginbühl zwischen Statuen aus der Archaik. Fotos PS / ZVG