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Streifzug durch die Grossstadt

Berlin hat der älteren Generation einiges zu bieten – den Kunstinteressierten und den Musikliebhabern, den Stadtwanderern und den Gourmets, aber auch jenen, die einfach auf der Suche nach neuen Eindrücken sind.

Wer mit offenen Augen durch Berlins Wohnquartiere wandert, wird feststellen, dass es in den Strassen viel grüner ist als in manch anderen Metropolen. Das liegt nicht nur an den Baumalleen, oder den hohen Bäumen, die Hinterhöfe in beschattete Pärke verwandeln, sondern auch an der Oberfläche vieler Trottoirs und Nebenstrassen: Sie sind durchlässig, denn sie sind mit Granitsteinen oder Platten gepflastert.

Auch mitten in der Ausgehmeile trennen Bäume den Gehweg von der Strasse.

In den Fugen kann es aus dem sandigen Untergrund auch mal grünen und blühen. Und bei Starkregen versickert das Wasser direkt, statt sich wie hierzulande in die Kanalisation zu ergiessen. Sogar auf asphaltierten Hauptverkehrsachsen gibt es manchmal einen grünen Mittelstreifen, meist ungepflegt, aber einem angenehmen Stadtklima förderlich.

Frans Hals, Singender Knabe mit Flöte, um 1627, © Staatliche Museen zu Berlin, Gemäldegalerie / Christoph Schmidt

Während der September-Hitze mit 33 Grad und mehr konnte man den Kühleffekt auch nachts im Bett spüren. Aber in den Hotels um den Alexander- oder Potsdamerplatz hätte man es ohne Klimaanlage wohl kaum ausgehalten. Durchwegs gekühlt sind die vielen Museen, die wir auf unserer Reise besuchten. Mehr als einmal die Gemäldegalerie, wo die Sonderausstellung Frans Hals. Meister des Augenblicks noch bis Anfang November lockt.

Frans Hals, Malle Babbe, um 1640, Berlin, © Staatliche Museen zu Berlin, Gemäldegalerie / Christoph Schmidt

Frans Hals gehört neben Rembrandt und Vermeer zu den Schlüsselfiguren der niederländischen Kunst des 17. Jahrhunderts. Doch im Gegensatz zu seinen Zeitgenossen, die eher düstere oder kontemplative Bilder malten, hatte sich Hals der Freude verschrieben. Er malte Menschen, die ihre Lebenslust kaum verbergen können, selbst in den Porträts des Bürgertums hat er Zufriedenheit und Frohsinn dargestellt, die Abgebildeten in entspannten Posen statt steifem Dasitzen mit locker geführtem Pinsel gemalt.

Frans Hals, Bildnis des Pieter van den Broecke, 1633.

Frans Hals gilt als jener Maler, dem es gelungen ist, Leute lachend zu malen. Wer vor den Bildern gut gelaunter Kinder steht, wird gleich angesteckt. Er hat sehr genau beobachtet und seine Motive, darunter die berühmte Randständige Malle Babbe oder den Lachenden Kavalier wirken lebendig und natürlich. Hals setzt sich in seinen Werken über gängige Konventionen hinweg und entwickelt einen bahnbrechend freien und spontanen Malstil. So wird er zum Vorreiter der Moderne. Nachdem er zunächst wegen seines kühnen und schnellen Pinselstrichs als schludrig bezeichnet wurde, gilt er seit der Wiederentdeckung durch Künstler wie Max Liebermann oder Lovis Corinth als der genialste Menschenmaler nicht nur seiner Zeit.

Zwei grafische Arbeiten von Andy Warhol in der grossen Retrospektive

Weder die Campbell-Dosen, noch die Marilyn-Bildfolge sind in der Austellung Andy Warhol: Velvet Rage and Beauty in der neuen Nationalgalerie ausgestellt. Der Titel bezieht sich auf das Buch The Velvet Rage (2005), in dem der Autor Alan Downs das Gefühl beschreibt, als homosexueller Mann in einer heterosexuell dominierten Welt aufzuwachsen und zu leben.

Ausstellungsansicht © 2024 The Andy Warhol Foundation for the Visual Arts, Inc. / Licensed by Artists Rights Society (ARS), New York / Foto: David von Becker / Nationalgalerie – Staatliche Museen zu Berlin

Die Ausstellung mit expliziten Aktzeichnungen, die zum Teil erstmals ausgestellt sind, gibt Warhols kontinuierlicher Suche nach seinem (meist männlichen) Schönheitsideal und Begehren Raum und vermittelt einen Überblick aus allen Schaffensperioden des grossartigen Zeichners und Filmemachers, der eine spätere Generation nachhaltig beeinflusst hat.

Stolz präsentiert sich der Mann am Imbiss-Stand vor der Nationalgalerie mit seinem neuesten T-Shirt aus dem Museums Shop.

Eine Timeline mit der Biographie und allgemeinen Daten ist sehr erhellend, was die Verfolgung und Diskriminierung der Homosexuellen allgemein und Warhohls Leben im Besonderen betrifft. Die DDR hat den Paragraphen 175 («widernatürliche Unzucht» zwischen Männern) schon 1968 abgeschafft, während er noch im vereinten Deutschland bis 1994 im Strafgesetzbuch stand.

Am Breitenbachplatz in der U-Bahn-Station: Auch eine Gemäldegalerie.

Originalmalerei und wunderbare Fliesen oder auch Fotogeschichten gibt es hier und dort unterirdisch, nämlich in U-Bahn-Stationen. Unterwegs finden wir in der U-Bahn-Station Kleistpark sogar Literatur: Ein Buchautomat liefert Lesestoff für ein paar Euro: Zum Kafka-Jahr leisten wir uns eine Taschenbuchausgabe von Ein Landarzt.

Neben dem Getränkeautomaten kann man hier Bücher per Münzeinwurf rauslassen.

Als nächste Station sei der Hamburger Bahnhof, das Museum für Gegenwartskunst genannt, wo in der historischen Bahnhofhalle eine raumgreifende Installation von Alexandra Pirici, mit biologischen und chemischen Prozessen sowie Musik und Live-Performance Rätsel aufgibt. Die Rieckhallen, nun renoviert und nicht für Wohnungsbau abgerissen, enthalten neben einer Spezialausstellung von Mark Bradford mit kritischen Arbeiten zu Rassismus und Armut, zehn teils riesige Installationen aus der Sammlung Gegenwartskunst unter dem Titel Museum in Bewegung.

Mark Bradford: Float, 2019. Mischtechnik auf Leinwand

Als Beispiel sei die riesige Videoinstallation von Jeremy Shaw von 2020 herausgegriffen. Auf mehreren Bildschirmen laufen Tanz- oder Turnübungen aus verschiedenen Jahren, die der Künstler weltweit gesammelt hat. Die Musik pulsiert, bis sich sowohl die Bilder als auch die Töne verändern, sich Körperteile und Gesichter zu Farbschlieren abstrahieren. Ein unerwartetes und tief gehendes Erlebnis von Wahrnehmung.

Jeremy Shaw: Phase Shifting Index. 2020

Wer nicht wegschaut findet unterwegs da und dort Skurriles, welches mitunter mit offizieller Kunst konkurrieren könnte: An einem Geländer die absolut letzten Leichenteile eines Velos, also gerade noch Teile des Rahmens und die Kette, mit der das Rad einst angekettet worden war.

Die Pflicht, ein Hundesäckchen zu benutzen, wird in Berlin weniger ernsthaft gehandhabt als hierzulande: «Ist das Kunst oder kann das weg?»

Oder ein bereits gut gedörrter Hundedreck mit eingestecktem Fähnchen (bitte die Pflästerung beachten), oder auch Nostalgisches das es wohl bald nicht mehr gibt: einen ganzen Strassenzug mit Gaslaternen.

Eine Quartierstrasse wird mit solchen Gaslaternen nachts erhellt.

Und staunend sowie belustigt steigt unsere kleine Gesellschaft ü60, die ihr früheres Stammlokal mit DDR-Charme nicht mehr wiedererkennt, so farbig und bewegt es nun als Cocodrillo vor allem junge Schöne vom Prenzlauerberg mit dickem Geldbeutel anzieht, ins Untergeschoss, denn die WC-Anlagen bieten irritierend transparente Türen nach draussen – fast wie bei der Gegenüberstellung im Krimifilm.

Titelbild: Ausstellungsansicht Frans Hals. Meister des Augenblicks. Ausstellungsansicht, Gemäldegalerie, 2024, © Staatliche Museen zu Berlin / David von Becker
Fotos: R. Hänny und E. Caflisch
Aktuelle Links:
Gemäldegalerie: Frans Hals. Meister des Augenblicks (bis 3. November)
Neue Nationalgalerie: Andy Warhol: Velvet Rage and Beauty (bis 6. Oktober)
Hamburger Bahnhof. Nationalgalerie der Gegenwart

 

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