Das Grauen ist unermesslich, nach wie vor. Auch genau ein Jahr danach. Immer noch leiden etwa 100 israelische Geiseln tagtäglich, sofern sie noch leben, in der Gewalt der Hamas unter Folter, Vergewaltigungen und Hohn. Irgendwo gesichert, eng bewacht im Gazastreifen. Und weil sich die Hisbollah zunehmend unter dem Schutz Irans massiv in den Konflikt einmischt, eskalieren die Auseinandersetzungen zum Jahrestag des Schreckens zu einem Flächenbrand im Nahen Osten. Israel lässt nicht locker, schlägt nicht nur unerbittlich zurück, geht in die Offensive.
Am 7. Oktober 2023 hatte er den schwärzesten Tag seiner Geschichte: der Mossad, der sonst hocheffiziente, weltweit gefürchtete und respektierte Geheimdienst Israels. Wie wenn der Gazastreifen an diesem fatalen Tag zu nahe, zu überschauen war, gar unter der vermeintlichen Kontrolle des Mossad stand, überraschten ihn die Hamas-Kämpfer, als sie ins Land eindrangen, brandschatzten, gegen 1200 Menschen töteten. Sie vergewaltigten Frauen, schnitten ihnen die Brüste ab, schlitzten Babys den Bauch auf. Gegen 250 schleppten sie als Geiseln ab, um sie als Pfand bei Verhandlungen, als Schutzschilder im Kampf gegen Israel einzusetzen.
Jetzt hat sich der Mossad mehr als rehabilitiert. Mit Tausenden von manipulierten Pagern, die der Mossad über geheime Wege der Hisbollah zuleitete und auf Kommando explodieren liess, schaltete er Tausende von Hisbollah-Kämpfer aus. Mitten in Teheran tötete er den Hamas-Führer Ismail Haniyeh. in Beirut den Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah. Das sind geheimdienstliche «Meisterleistungen», die nur gelingen, wenn die Genfer Konvention bewusst nicht präzis beachtet wird. Wenn die Aktionen minutiös geplant, die Orte präzis ausgekundschaftet, die Verhaltensweise der ins Visier genommenen Personen eruiert sind. Das bedingt Spitzel, Spione, Überläufer im unmittelbaren Umfeld der Zielpersonen, eine Generalstabs-Planung.
So ist es nicht verwunderlich, dass sich die Ayatollahs im Iran fürchten, ihnen könnte das gleiche passieren. Ayatollah Chamenei, Irans geistliches Oberhaupt, hat zum Freitaggebet, das er erstmals seit fünf Jahren wieder einmal öffentlich leitete, wohl bewusst tausende Anhänger geladen oder befohlen, um der Weltöffentlichkeit zu demonstrieren, dass er Herr der Lage ist. Er hatte sie auch als Schutzschilder geladen oder befohlen, weil er sich wohl sicher war, dass Israel nicht ein Massaker anrichten würde, auch wenn die Tausenden ein Ziel auf dem Tablet abgegeben haben, das leicht zu treffen gewesen wäre. Israel zielt zuerst auf die Führer, nicht auf das Volk im Iran. Auf ein Volk, das gespalten ist, das nur mit Staatsterror unter Kontrolle gehalten werden kann und auf eine Befreiung wartet.
Benjamin Netanjahu, der israelische Ministerpräsident, hat ein Ziel vor Augen: Die Hamas und zumindest den militärischen Arm der Hisbollah im Libanon will er vernichten. Die Angriffe der Israelis sind brutal. Im Gazastreifen starben bisher 40‘000 Menschen, viele Zivilisten, die den Hamas als Schutzschilder dienten. Sie wurden Opfer der Bomben, der Raketen, der militärischen Jagd auf die Hamas-Terroristen vor Ort. Im Libanon sind die Opfer noch nicht gezählt. Hunderttausende sind auf der Flucht vor den unentwegten Luftangriffen aus Israel, bis nach Syrien. Die Weltöffentlichkeit ist empört. Tausende gehen auf die Strasse, demonstrieren gegen Israel. Nehmen Position für das geschundene palästinensische Volk.
Und Netanjahu? Er strebt unbeeindruckt eine Endlösung an. Ein Wort, das uns erschauern lässt, an die Nazi-Zeit erinnert, als die Juden einer Endlösung zugeführt werden sollten. Und die bange Frage: Zur Endlösung muss er wohl auch den Iran ins Kalkül miteinbeziehen, von wo aus die Hamas, die Hisbollah und die Huthi in Jemen gesteuert, militärisch ausgerüstet, finanziert werden. Wie wird er mit dem Iran umgehen? Hofft er auf eine Konterrevolution im Iran, welche die USA mit begünstigen könnten? Bereits beim letzten Raketenangriff Irans auf Israel haben die US-Army, die NATO-Staaten Großbritannien und Frankreich, selbst Jordanien geholfen, iranische Raketen vom Himmel zu holen, um Israel zu schützen. Ohne das Einverständnis der USA wäre das nicht möglich gewesen. Ist Joe Biden, der von den Kommentatoren so viel gescholtene US-Präsident, weit stärker in die Aktionen Netanjahus eingebunden als öffentlich bekannt ist? Immerhin sind bereits jetzt rund 40`000 US-Soldaten im Nahen Osten stationiert, zu Wasser und zu Land schwerbewaffnet aktiv. Gibt es neben den tiefschwarzen Wolken am Himmel, auch eine Spur Hoffnung auf eine ungeahnte Entwicklung im Nahen Osten, auf einen von Mullahs befreiten Iran? Die Machtverhältnisse im Nahen Osten wären neu geordnet, Israel seinen Erzfeind los.
«Die Machtverhältnisse wären neu geordnet.»
Das ist zu schön, um wahr zu sein. Ein gleichberechtigtes Nebeneinander ist nicht möglich, solange zwischen Freund:innen und Erzfeinden unterschieden wird und die vermeintlich Stärkeren zur Vernichtung von Tieren (Terrorist:innen) aufrufen und das Elend und den Tod von vielen Unschuldigen in Kauf nehmen.
Ich kann mir aber gut vorstellen, dass irgendwann die missliebige Parole «free, from the river to the sea» so interpretiert wird, dass alle in diesem geografischen Bereich lebenden Menschen in einem einzigen funktionierenden Staat gleiche Existenz-, Bildungs-, Arbeits- und Wohnrechte geniessen dürfen. Dazu müssen Hass und Mauern überwunden werden. Dieser Traum ist nicht weiter weg als eine Zweistaatenlösung. Weitere Phantasien sind erwünscht.