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Sie morden wie die Männer

Am Zürcher Schauspielhaus bringt die deutsche Regisseurin Anne Lenk Shakespeares berühmtes Drama «König Lear» auf die Bühne. Mit grosser Spiellust führt ein starkes Ensemble schalkhaft vor, wohin es führen kann, wenn Macht zum Selbstzweck wird.

„Leider trage ich das Herz nicht auf der Zunge und die Liebe nicht auf dem Tablett“, wagt sich Cordelia ihrem Vater, König Lear, zu sagen. Dieser hatte seine drei Töchter zuvor aufgefordert, ihm ihre Liebe zu versichern, damit er Land, Macht und Verantwortung entsprechend unter ihnen aufteilen kann. Nun will er, empfindlich in seiner Eitelkeit getroffen, nur noch Regan und Goneril mit seinem Erbe betrauen, die sich in ihren Liebesbekundungen geradezu überboten hatten, und verstösst Cordelia.

Kampf gegen das Patriarchat

In ihrer Zürcher Inszenierung im Pfauen, basierend auf der aktualisierten Textversion von Thomas Melle,  gestaltet Anne Lenk den Konflikt um Macht und Machtentsagung zu einer aktuellen Parodie. Sie bleibt dabei dicht an Shakespeares Original, spitzt jedoch die Frage zu: Ist Macht und hier speziell das Patriarchat überwindbar oder ist Macht ein System, dem der Mensch unabhängig von Alter und Geschlecht immer wieder verfällt? Sie garniert ihre Inszenierung mit heutigen Fluchwörtern, lässt die beiden Töchter Regan und Goneril siegreich gegen das Patriarchat ankämpfen. Dazu morden sie wie die Männer. Zum Schluss beginnt die Machtverteilung von neuem. König Lear, diesmal  in adretter Managerkleidung, verteilt sein Reich noch einmal. Der Ausgang bleibt offen.

Karin Pfammatter in der Rolle der Gräfin Gloucester mit Heiligenschein und Steven Sowah als Sohn Edgar. 

Zu Beginn steht König Lear, geschmückt mit Orden und Krone, vor seinem eigenen Reiterdenkmal und verkündet seinen Töchtern die Aufteilung des Reichs. Und damit ist der Reigen der Intrigen und Irrungen eröffnet. Diese werden allesamt überzeichnet und mit teils grotesken Einlagen dargeboten. Lears Hofdame Kent (Lena Schwarz) wird verbannt und fungiert danach dick gepolstert als unterwürfiger, jedoch listiger weiblicher Narr des abgedankten Königs. Die beiden neuen Herrscherinnen Regan und Goneril (Lea Sophie Salfeld und Nancy Mensah-Offei) residieren in einem Riesenmaul, organisieren kaltblütig berechnend die mörderische Rebellion gegen das Männer-Regime, vorab gegen den eigenen Vater, derweil der immer verwirrter agierende Lear jetzt im Wollpullover zusammen mit einem Tross alter Männer auf der Bühne herumgeistert.

Johann Jürgens als Edgar radelt zu den Klängen vom Major Tom durch die Lüfte.

Mit von der Partie ist die spindeldürre Gräfin Gloucester mit langen grauen Haaren (Karin Pfammatter) mit ihren beiden Söhnen Edgar (Johann Jürgens) und Edmund (Steven Sowah), der mit einem gefakten Brief seine Mutter alleine beerben will und zum Populisten und mörderischen Gehilfen der beiden neuen Herrscherinnen mutiert. Der von seinem eigenen Bruder verratene und in die Flucht getriebene Edgar schwingt sich zu den Klängen von Major Tom auf einem Bike-Rad in die Lüfte, rettet die geblendete Mutter vor dem Selbstmord und ermöglicht so, das hinterlistige Spiel seines Bruders zu entlarven.

Ein Spiel mit Hang zum Absurden

Die Geschichte um den alternden König Lear gilt als eines der blutrünstigsten Dramen Shakespeares. In Lenks Inszenierung mit dezenten Musikeinlagen obsiegt die Komik in der tragischen Geschichte eines Generationenkonflikts. Das gilt auch für das Bühnenbild von Judith Oswald mit schwebenden Wolkengebilden, einem vom Himmel fallenden riesigen Plüschtier und einem riesigen, üppig rot geschminktem Maul als Herrscherinnensitz. Die Regisseurin sorgt immer wieder für heitere Momente im gruselig-bedrohlichen Spiel, lässt die Schauspielerinnen und Schauspieler mit herrlichem Hang ins Absurde spielen. Einzelne Rollen sind meisterhaft besetzt. Das gilt vorab für Rainer Bock als König Lear, der seine wechselhaften Launen, seine Nutzlosigkeit und seinen Verfall als alter Mann grandios wiedergibt. Nicht minder virtuos sind Lena Schwarz als Hofnärrin, die den Launen Lears geschickt zu trotzen weiss, und Karin Pfammatter als Gräfin Gloucester, die die verzweifelte und geblendete Mutter leidvoll mit vollem Körpereinsatz spielt.

Alles in allem, geboten wird ein zeitgemässer König Lear, der die Machtfrage und das Patriarchat gehörig demaskiert. Die dreistündige Aufführung (mit Pause) fand trotz gewisser Längen am Premierenabend begeisterte Zustimmung.

Zum Schluss nochmals die Machtverteilung mit Rainer Bock als Lear, umringt von seinen Töchtern (v.l.): Sasha Melroch, Lea Sophie Salfeld und Nancy Mensah-Offei. 

Titelbild: Nancy Mensah-Offei als Goneril und Lea Sophie Salfeld als Regan im grossen Maul. Fotos: Arno Declair

Weitere Spieldaten: 21., 27., 29., 31. Oktober, 5., 8., 13., 14., 17., 21., 23., 27., 30. November, 2. Dezember

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