StartseiteMagazinLebensartWeben – ein Handwerk für Kopf und Hand

Weben – ein Handwerk für Kopf und Hand

Eine der ältesten Kulturtechniken wird heute noch praktiziert: das Weben. Das Buch «Alle Fäden in der Hand. Weben in der Schweiz» stellt die Tätigkeit selbst und aktuelle Lebensgeschichten in Wort und Bild vor.

Kleider, Teppiche, Stoffe ganz allgemein üben eine Faszination aus, die weit über Modisches oder schöne Farben und Muster hinausgeht. Gewebe aller Art sind nicht nur nützlich, sondern auch ästhetisch anziehend. – Wie oft haben Sie sich schon ertappt, dass Sie einen Stoff nicht nur anschauen, sondern auch anfassen wollten. Berührung als Teil des Kannenlernens. Dass Handweberinnen und Handweber grundsätzlich auf nachhaltigen Umgang mit Ressourcen Wert legen, ist selbstverständlich. Gerade aus Resten lassen sich reizvolle neue Textilien kreieren.

«Alle Fäden in der Hand. Weben in der Schweiz» ist von zwei kundigen Frauen herausgegeben worden: Gerlind Martin und Regula Zähner. Die beiden portraitieren dreizehn Weberinnen und einen Weber in der gesamten Schweiz. Die Schweizer Landkarte auf der Innenseite des Buchdeckels verzeichnet die Orte, wo aktuell Webstuben, Webateliers und  Textilwerkstätten bestehen, zwischen Genf und dem St. Galler Rheintal, Basel und Santa Maria im Val Müstair.

Kein Webstuhl ist wie der andere

Da ist zuerst die Baslerin Isabel Bürgin. Sie webt, seit sie 1981 die Ausbildung zur Textildesignerin und Handweberin begonnen hat. Ein traditionelles Handwerk auszuüben, gehöre zu ihrer Familiengeschichte, erklärt sie. Wichtig in ihrem Alltag ist ihr die Bewegung, jeden Tag läuft sie, aber auch das Weben erfordert Bewegung. Am Webstuhl sitzt sie nur für kleinere Stücke, vor allem für Schals. Für ihre Haupttätigkeit, das Teppichweben, besitzt Isabel Bürgin einen drei Meter breiten Webstuhl mit zwei Schäften. Zum Weben geht sie unablässig vor dem Webstuhl hin und her. «Die Weberin ist nicht gefeit vor Rückenbeschwerden», erfahren wir. Ihre Teppiche sind inzwischen als Unikate sehr geschätzt.

Zum Weben braucht es Kraft und Köpfchen

Weben gehört heute zur Sparte des Kunsthandwerks. Viele Weberinnen oder Weber fertigen Einzelstücke an. Jede neue Arbeit muss genau berechnet und geplant werden: Wie die Weberei aussehen soll, welche Farben und welche Technik die Weberin / der Weber einsetzen möchte. «Ich mache nie zweimal das Gleiche», sagt Therese Oppliger. Sie lebt in Hasle bei Burgdorf BE und hat in den 1940er Jahren eine Lehre an der damaligen Frauenschule der Stadt Bern absolviert, wie es sich in jener Zeit für junge Mädchen gehörte. Eher zufällig lernt sie anschliessend auch weben.

Seidenhandweberstuhl (Ballenberg) Foto: Katharina Wieland Müller / pixelio.de

Als eine Lehrerin dieser Schule aus Skandinavien zurückkam, konnte Therese Oppliger diese Kenntnisse so weit vertiefen, dass sie selbst unterrichten konnte. Denn das war ihr Wunsch: Selbst das Lehrpatent zu besitzen. In den kommenden Jahrzehnten gibt sie an verschiedenen Orten Unterricht in Weben. Später kann sie sich selbständig machen, ihren Tag entsprechend ihren Kräften einteilen.

Weben – ein Weg in die Selbständigkeit

Die Lust am Weben hat sie auch im hohen Alter nicht verloren. Ich kann ihr gut nachfühlen, dass sie «mit Freude und Neugier» weiterwebt. Es ist nämlich eine anspruchsvolle Tätigkeit: Sie braucht Kraft für das eigentliche Weben grösserer Textilien, wie oben erwähnt, – und Intelligenz, um das Webstück bis ins Einzelne vorzubereiten.

Weben ist keineswegs eine sogenannte Frauenarbeit. In früheren Jahrhunderten und in vielen aussereuropäischen Ländern gab und gibt es Weber. – Das Theaterstück von Gerhard Hauptmann «Die Weber» erzählt von Männern im Schlesien des 19. Jahrhundert, die durch die Mechanisierung der Weberei ihre Arbeit und damit ihren Lebensunterhalt verloren und deshalb revoltierten.

Alte Textil-Traditionen im Tessin

Matteo Gehringer im Tessin ist dennoch der einzige Weber, der in diesem Buch vorgestellt wird. Er hat verschiedene Ausbildungen, hat neben Kunstgeschichte auch alte Sprachen und das Cembalospiel studiert, und ist schliesslich zur Tradition seiner Familie zurückgekehrt. Seine Grossmutter hatte gewebt, der Grossvater neben der Landwirtschaft ebenfalls. «Sie machten immer weiter, das Weben gehörte einfach zu ihrem Leben», erzählt Matteo. Er ist im renovierten Haus in ihre Fussstapfen getreten, setzt sich mit den alten Traditionen des Webens und des Stoffdrucks auseinander, beginnt selbst Flachs anzubauen, die neben Baumwolle wichtigste Pflanzenfaser fürs Weben. Er entscheidet sich, seine Stoffe mit Indigo aus Italien zu färben und mit Mustern zu experimentieren. Damit lässt er eine alte Tradition wieder aufleben: den Tessiner Blaudruck.

Junge Menschen lassen sich begeistern

Die Einblicke in unterschiedliche Lebensgeschichten – ein Grossteil verfasst von Gerlind Martin – sind ein echter Lesegenuss, sehr lebendig geschrieben mit Anteilnahme für die Portraitierten. Nicht nur langjährige Weberinnen lernen wir kennen, Marie Schumann, 1991 in Norddeutschland geboren, hat ihr Atelier in Zürich eingerichtet. Sie hatte sich nach der Schule erst orientieren müssen, welche Richtung sie beruflich einschlagen wollte. In Hamburg an der Hochschule für bildende Künste studierte sie Textildesign und erfuhr von ihrer Lehrerin: «Weben als Beruf existiert nicht mehr!» Spannend zu lesen, wie die junge Frau schliesslich zu ihrem eigenen kreativen Ausdruck findet, einer Mischung aus Geweben und dreidimensionalem Design.

Webstuhl Foto: Martin Jäger  / pixelio.de

Die individuellen Wege zum und mit dem Weben und die jeweils eigenen Lebensgeschichten zeigen, wie lebendig das Weben heute ist. Es ist der immaterielle Reichtum eines Kunsthandwerks, das sich vom früher notwendigen Handwerk zum ebenso nützlichen wie ästhetischen Kunsthandwerk entwickelt hat.

Im zweiten, kürzeren Teil lesen wir etwas zur Geschichte der Textilkunst und über die vielfältigen Praxisfelder, über die Zukunft des Webens und nicht zuletzt über die in Lausanne gewachsene Tradition der Textilbiennalen, die zu international wichtigen Ausstellungen führen. Das Buch ist ausserordentlich schön gestaltet mit vielen ganzseitigen Abbildungen. Als Geschenk für junge Menschen, die sich für Textilkunst interessieren, ebenso geeignet wie für alle, die sich für Kunsthandwerk schon immer begeistert haben.

Gerlind Martin, Regula Zähner (Hrsg.): Alle Fäden in der Hand. Weben in der Schweiz.
Christoph Merian Verlag, 2024, 204 Seiten, mit 145 meist farbige Abbildungen.  ISBN 978-3-03969-035-0

Titelbild: Der alte Webstuhl auf Fuerteventura ist immer noch Arbeitsgerät. Ein Weber an der Arbeit. Foto: Dieter Schütz  / pixelio.de

Die letzte Ausstellung (2023) im Rahmen der Textilbiennalen in Lausanne

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