Die Historikerin Elisabeth Joris ist 78-jährig. Die Verlegerin Denise Schmid, ebenfalls Historikerin, hat über sie eine Biografie verfasst. Ein Leben in Geschichten dokumentiert eine persönliche und soziale Zeitreise.
50 Jahre nach dem 1968er-Aufbruch fragte ich Elisabeth Joris bereits und später wieder: Was bleibt? Joris kontrastiert erstens: «Das Private ist politisch.» Diese Parole habe sich inzwischen in ihr Gegenteil verkehrt. Heute brauche es eher einen vermehrten Schutz der Privatsphäre. Denn im Zuge der Skandalisierung wird auf die Person gezielt, statt über politische Inhalte und darüber debattiert, wie sich gesellschaftliche Verhältnisse im Privaten zeigen. Und die Personifizierung betrifft bekanntlich oft Frauen, die anhand tradierter «weiblicher Normen» beurteilt werden; «von äußeren Erscheinungen bis zu familiären Zuständigkeiten».
Zweitens relativiert Joris die Aussage «Mein Bauch gehört mir», die sich auf das körperliche Selbstbestimmungsrecht der Frauen bezieht. Und das tue heute nicht nur die Reproduktionsmedizin, sondern ebenso das boomende Geschäft mit der Schönheit. Die plastische Chirurgie fördere jedenfalls keine Befreiung. Sie orientiere sich vielmehr an engen, finanziell verwertbaren Normen.
Joris kam 1946 in Visp zur Welt. Ihr Vater arbeitete als Chemiker und war, trotz katholischer Umgebung, kein Kirchgänger. Die Mutter ging bereits in einem Badeanzug schwimmen, was damals als «unkeusch» galt. Und Elisabeth hatte das Gefühl, «daneben» zu sein. Sie trug ihre Bubenhosen auch in der Schule. Die Mutter und Elisabeth setzten das eigenwillig durch. In einer Zeit, in der Mädchen das Walliser Gymnasium versagt blieb.
Elisabeth besuchte die Handelsschule, nahm dann eine Au-pair-Stelle in England an, studierte an der Uni Zürich, politisierte sich, lebte in einer Wohngemeinschaft und pendelte gerne in ihre Heimat. Sie organisierte Veranstaltungen mit. Zum Beispiel mit Schriftsteller Peter Bichsel, der aufmüpfige Geschichten über Schulmeistereien und des Schweizers Schweiz erzählte.
«Wir kämpften gegen das Establishment, die Klüngelei, Schießplätze in den Alpen und überhaupt gegen das Militär, und ich fühlte und fühle mich klar als 68erin», berichtete mir Elisabeth Joris. Anfang der 1970er-Jahre gründete sie das Kritische Oberwallis und die Zeitung Rote Anneliese mit, später die feministische Zeitschrift Olympe. Ihr Werdegang als Historikerin, Feministin und Gewerkschafterin «gehen Hand in Hand und wären ohne den 68er-Aufbruch nicht denkbar», bilanziert sie.
Elisabeth Joris setzt sich für Sans-Papiers, Hausarbeiterinnen und Klima-Seniorinnen ein. Vielleicht hätte sie sich «noch stärker und kritischer zu Wort melden sollen», meint sie rückblickend. Joris wohnt seit über vierzig Jahren in einer Hausgemeinschaft, in der auch ihre Kinder aufgewachsen sind. Die Mitglieder verständigen sich vierzehntäglich und sprechen vermehrt darüber, «wie wir das Altern in dieser Wohnform gestalten». Zentral sind für Elisabeth Joris «eine kommunikative Auseinandersetzung über das sogenannte Private sowie ein gewisser gemeinsamer politischer Wertekanon».
Von mir nochmals auf das 68er-Erbe angesprochen, betont die Historikerin «die Reflexion des eigenen, von Widersprüchen durchzogenen Tuns». Geblieben sei ihr auch «das Bewusstsein um den Einfluss der sozialen Zugehörigkeit und des Geschlechts auf die Art des öffentlichen Auftretens und der Interessenwahrnehmung».
Soweit meine Notizen, arg verkürzt. Denise Schmid porträtiert die feministische Historikerin viel ausführlicher. Der ansprechende Text erhellt Herkunft und Kontexte. Nonkonformistisch und «ohne Karrieredrang» erlebte Elisabeth Joris ihren Vater. Und an ihrer Mutter schätzte sie «die wunderbare Fähigkeit, aus allem etwas zu machen». Joris und Schmid berichten auch über das «Kinder haben zwischen Theorie und Praxis». Sie beleuchten «frauenbewegte Zeiten» und «ungelöste Widersprüche». Ein gehaltvolles und spannendes Buch.
Porträt Ueli Mäder: © Christian Jaeggi
- Denise Schmid: Elisabeth Joris, Ein Leben in Geschichte(n). Hier und Jetzt Verlag, Zürich 2024, 312 Seiten. ISBN 978-3-03919-622-7
- Ueli Mäder: 68 – was bleibt? Rotpunktverlag, Zürich 2018, 368 Seiten. ISBN 978-3-85869-774-5