Richterinnen und Richter geben selten Interviews. Nach 31 Jahren als Gerichtspräsident im Berner Oberland geht Jürg Santschi Ende Januar 2025 in Pension. Aus diesem Anlass gewährte er Seniorweb ein Interview und sprach über seine Erfahrungen mit Beschuldigten und Anwälten.
Seniorweb: Wie geht es Ihnen an der Schwelle zum Ruhestand?
Jürg Santschi: Ich freue mich sehr. Da meine Frau noch berufstätig ist, werde ich mich vermehrt im Haushalt engagieren, mich um unsere vier Kinder im Alter zwischen 17 und 22 Jahren kümmern und mit dem Hund spazieren gehen. Ausserdem lebt noch meine 93jährige Mutter, die ich regelmässig besuche. Schliesslich behalte ich ein Nebenamt: Ich bleibe Mitglied der Rekurskommission für Massnahmen gegenüber Fahrzeugführerinnen und Fahrzeugführern.
Am 1. April 1993 waren Sie als Gerichtspräsident in Thun eingesetzt worden. Weshalb wurden Sie Richter und nicht Anwalt oder Verwaltungsjurist?
Das hat sich schon früh abgezeichnet. Während meinem Anwaltspraktikum musste ich ein Haftentlassungsgesuch für einen Vergewaltiger schreiben. Das ging mir gegen den Strich. Als ich dann als Gerichtsschreiber am Verwaltungsgericht im Auftrag des Richters Urteilsentwürfe inklusive Begründung schreiben durfte, wusste ich, dass ich Richter werden wollte. Am Gericht, so hatte ich das Gefühl, versucht man, der objektiven Wahrheit möglichst nahe zu kommen. Das Mitentscheiden gefiel mir viel besser als die einseitige Interessenvertretung als Anwalt.
Waren Sie am Gericht in Thun immer Strafrichter? Oder haben Sie auch ab und zu in zivilrechtlichen Verfahren mitgewirkt?
Als ich im Amtsbezirk Thun begann, gab es hier vier Gerichtspräsidenten. Das war noch vor der grossen Justizreform. Mein Pflichtenheft lag von Anfang an beim Strafamtsgericht, den einzelrichterlichen Voruntersuchungen und im Bereich Strassenverkehrsrecht. Nach vier Jahren Sozialversicherungsrecht war es ein steiler Einstieg, auch weil ich von meinem Vorgänger mehrere grosse Fälle übernahm. Bis heute blieb ich dem Strafrecht treu. Während kurzer Zeit habe ich auch Fälle aus dem Familienrecht bearbeitet.
Wie hat sich der Richter-Beruf während Ihrer langen Amtszeit verändert?
Als ich als Richter begann, mussten wir beispielsweise noch jeden Fall von «Fahren in angetrunkenem Zustand» mündlich verhandeln. Strafbefehle (Verurteilungen auf dem schriftlichen Weg) gab es nur, wenn die Sanktion sich auf eine Busse beschränkte. Bedingte Freiheitsstrafen mussten zwingend von einem Richter ausgesprochen werden.
Als Einzelrichter hatte ich zu Beginn meiner Laufbahn eine Strafkompetenz von bis zu sechs Monaten Gefängnis, als Vorsitzender des Kollegialgerichts eine solche von bis zu fünf Jahren. Per Ende 1996 wurden die Geschworenengerichte und mehrere kleine Amtsgerichte abgeschafft. Am Kreisgericht Thun arbeiteten ab 1997 vier Gerichtspräsidenten und zwei Gerichtspräsidentinnen. Die Strafkompetenz war neu gegen oben offen. Zusammen mit Laienrichtern, die nun mit Aktenkenntnis in die Verhandlung kamen, konnte ich dann auch lebenslängliche Freiheitsstrafen aussprechen.
Gibt es Gerichtsfälle, die Ihnen in besonderer Erinnerung geblieben sind?
Natürlich gibt es die: Der Mordfall Etterli, 1997 in Interlaken beurteilt, bleibt mir wegen der Personalwechsel – ich wurde als ausserordentlicher Richter eingesetzt – in Erinnerung. Nicht vergessen werde ich den ersten Kientaler Mordfall, aber auch das Tötungsdelikt in Spiez, als ein Heimleiter und dessen Frau von einem Vater und dessen Sohn umgebracht wurden. Aufwändig waren auch das Verfahren gegen die Boxerin von Interlaken und das Tötungsdelikt in Oey.
Nahe gegangen sind mir aber auch kleinere Fälle, besonders Fahrlässigkeitsdelikte, wie die Unachtsamkeit eines Feuerwehrmannes, der bei der Rettung einer Familie aus einem brennenden Haus eine Tasche fallen liess, die ihm aus dem Fenster gereicht worden war. Was er nicht wusste: In der Tasche befand sich ein in feuchte Tücher gehülltes Baby, das bei dem Sturz ums Leben kam. Dieser Fall bereitete mir schlaflose Nächte. Genau wie tödliche Verkehrsunfälle, in denen Fahrlässigkeit im Spiel war und in denen ich mir bewusst wurde, dass eine Unachtsamkeit auch mich vor den Richter bringen könnte.
Wie haben Sie sich in solchen tragischen Fällen abgegrenzt?
Im Dialog mit Kolleginnen und Kollegen und zeitweise beanspruchte ich auch professionelle Hilfe. Den Feuerwehrmann habe ich übrigens vom Vorwurf der fahrlässigen Tötung freigesprochen.
Was waren Ihre Erwartungen an die beteiligten Anwälte?
Gerichtspräsident Santschi in einem Anwaltszimmer am Gericht.
Anwälte müssen die Interessen ihrer Klientinnen und Klienten vertreten. Das können sie taktisch auf unterschiedliche Weise tun. Mir als Richter war es am liebsten, wenn sie ihren Klienten rieten, ein Geständnis abzulegen. Aber natürlich hatte ich auch Verständnis, wenn ein Freispruch verlangt wurde. Grundsätzlich habe ich von den Anwälten Professionalität erwartet, was in den allermeisten Fällen auch der Fall war. Im Grossen und Ganzen habe ich gute Anwälte erlebt, die seriöse Arbeit leisteten.
Sie waren auch am Wirtschaftsstrafgericht tätig.
Genau: Am bernischen Wirtschaftsgericht sind derzeit zwei hauptamtliche Richterinnen tätig, die als Referentinnen wirken und alternierend den Vorsitz führen. Als dritter Richter kommt mitberatend ein Vertreter eines Regionalgerichts hinzu. Ich habe jeweils das Regionalgericht Oberland vertreten. Die Materie ist uns nicht unbekannt, denn auch wir behandeln Wirtschaftsdelikte wie Betrugsfälle etc.. Aber ich hatte nie den Wunsch, hauptamtlich ans Wirtschaftsgericht zu wechseln. Nur grosse Fälle mit viel Vorbereitungsaufwand und dann noch als Vorsitzender: das kam für mich nicht in Frage.
Sie mochten auch die kleinen Fälle, nahe bei den Menschen?
Richtig: Als Gerichtspräsident an einem Regionalgericht erledigt man neben grossen und aufwändigen auch kleine Fälle innert nützlicher Zeit. Das gefiel mir. Für mich stand immer der Mensch im Zentrum.
Sind Richter unabhängig, obwohl sie von einer Partei zur Wahl vorgeschlagen werden und ihrer Partei einen jährlichen Beitrag zahlen müssen?
Laut einer kürzlich veröffentlichten Umfrage unter der schweizerischen Richterschaft ist diese Regelung für eine Mehrheit der Antwortenden ein Problem. Ich sehe das ähnlich. Bei Differenzen oder Spannungen könnte man ja auch die Partei wechseln. Ich selbst bin 2008 nach dem Ausschluss von Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf aus der SVP zur BDP übergetreten und wurde als Gerichtspräsident wiedergewählt. Ich persönlich habe nie nach Parteibuch entscheiden und auch nie eine Schelte der Partei erlebt.
Trotzdem: Beeinflusst die Weltanschauung eines Richters, einer Richterin die Urteilsfindung?
Politische Überlegungen oder Erwartungen haben mich nicht beeinflusst. Worauf ich als Richter aber stets geachtet habe: dass ich meine persönlichen Emotionen ausblenden konnte. Auch als Richter bleibt man Mensch. Selbstverständlich empfand auch ich während den Verhandlungen Sympathien für einen Beschuldigten, oder ich ärgerte mich über ihn. Persönliche Gefühle dürfen aber ein Urteil nicht beeinflussen. Hier geht es um Recht, Gesetz und um Gerechtigkeit.
Das Justizzentrum Thun, in dem sich auch das Regionalgericht Oberland befindet.
Die Urteilseröffnung inklusive Begründung erledigten Sie meistens mündlich. Was war Ihnen dabei wichtig?
Ich habe weder als Einzelrichter noch als Vorsitzender eines Kollegialgerichts einfach Notizen abgelesen, sondern das Urteil stets aus dem «Stegreif» verkündet und begründet. Dabei ging es mir darum, dass sich alle Anwesenden, der Beschuldigte, der Anwalt oder die Anwältin, die Presse und das Publikum abgeholt fühlten. Und ich versuchte, in einer Sprache zu reden, die vor allem der Beschuldigte verstand und so meine Urteilsbegründung nachvollziehen konnte.
Voruntersuchungen und Gerichtsverfahren dauern lange, was vor allem für Beschuldigte und Opfer zur Belastung wird. Wo sehen Sie die Gründe?
Es ist mal erstens ein Mengenproblem. Die Zahl der Verfahren nimmt zu. Der zweite Grund liegt im Ausbau der Verfahrensrechte. Anwälte machen zunehmend vom Recht Gebrauch, neue Eingaben zu machen. Auch die Einführung der obligatorischen Landesverweisung führt regelmässig zu Rechtsmitteln. Eine Strafe würden die ausländischen Beschuldigten akzeptieren, aber gegen die Landesverweisung wehren sie sich oft. Das zieht die Verfahren in die Länge. Glücklicherweise ist das Problem im Oberland weniger gravierend als in Bern oder Biel.
Wenn man die Verhandlungslisten des Regionalgerichts Oberland über die letzten Jahre anschaut, bekommt man den Eindruck, dass die Zahl der Sexualdelikte, die vor Gericht kommen, zugenommen hat? Stimmt dieser Eindruck?
Ja, ich habe auch den Eindruck, dass wir öfter über Sexualdelikte verhandeln als früher. Woran das liegt, weiss ich nicht. Ich vermute, dass Frauen heute mit Unterstützung der Beratungsstellen eher bereit sind, ihren Peiniger anzuzeigen. Zu Recht, wie ich finde. Denn solche Delikte dürfen nicht unter den Teppich gekehrt werden.
Schwarzfahren im Bus, Ladendiebstahl, Beschimpfungen, häusliche Gewalt…. Die Bereitschaft, sich rechtskonform zu verhalten, scheint in unserer Gesellschaft abzunehmen. Haben Sie als langjähriger Gerichtspräsident auch diesen Eindruck?
Kürzlich erzählte mir eine Bekannte von einem Vorfall im Geschäft: Sie habe eine andere Kundin gebeten, ein Produkt, das deren Kind in den Mund genommen hatte, nicht mehr ins Gestell zu legen. Darauf begehrte die Mutter auf und erklärte ihr, sie habe sich nicht in Dinge einzumischen, die sie nichts angehen würden.
Für mich beginnt die Erziehung zu Anstand und korrektem Verhalten in der Familie. Wenn Eltern vor den Kindern so reagieren, wundert es mich nicht, dass Kinder und Jugendliche kein Unrechtsbewusstsein mehr entwickeln und ohne ein schlechtes Gewissen Gepflogenheiten oder Vorschriften missachten und übertreten. Diese Entwicklung finde ich bedauerlich.
Zur Person
Jürg Santschi.
Nach einem Jura-Studium in Bern, einem Gerichtspraktikum in Thun und einem Anwaltspraktikum machte Santschi im Sommer 1987 in Bern den «Fürsprecher» (Staatsexamen). Nach mehreren Monaten Militärdienst trat er am 1. Januar 1988 in den EJPD-Beschwerdedienst ein, wo er Asylbeschwerden behandelte. Ab dem 1. November 1988 war er während vier Jahren Kammerschreiber am Kantonalen Verwaltungsgericht, in der Abteilung für Sozialversicherungsrecht.
Am 1. April1993 wechselte Jürg Santschi als Gerichtspräsident an das damalig Amtsgericht Thun, das durch die Justizreformen per 1.1.1997 und 1.1.2011 vorerst zum Kreisgericht Thun und dann zum heutigen Regionalgericht Oberland wurde. Als Vertreter des Regionalgerichts war er regelmässig auch im Einsatz als Richter am Wirtschaftsgericht des Kantons Bern. Zudem ist er seit einigen Jahren Mitglied der Kommission für Massnahmen gegenüber Fahrzeugführerinnen und Fahrzeugführern. Ende Januar 2025 wird Santschi 65jährig und geht als Gerichtspräsident in Pension.
Bestes Gericht
Laut einem Gerichtsrating des «Schweizerischen Beobachters» belegte das Kreisgericht Thun im Jahr 2001 schweizweit den ersten Platz. In einer Umfrage unter den Mitgliedern des Schweizerischen Anwaltsverbands (SAV) wurden die Kriterien Schnelligkeit, Freundlichkeit, Kompetenz, Einfühlsamkeit und Unabhängigkeit beurteilt. Bei einer Maximalnote 6 erzielte das Kreisgericht Thun (Foto unten) den sehr guten Wert von 5,34. Dem Gericht gehörte bereits damals Richter Jürg Santschi (Bildmitte. hintere Reihe, mit Brille, Schnauz und Kravatte) an.
Foto: Marcus Gyger / Quelle: Beobachter Nr. 13, 22.6.2001, S.27
Titelbild: Jürg Santschi im Gerichtssaal 5 des Regionalgerichts Oberland: «Ich versuchte immer, in einer Sprache zu reden, die vor allem der Beschuldigte verstand und so meine Urteilsbegründung nachvollziehen konnte.» Fotos: Peter Schibli
Das Greco-Gremium (Gruppe Staaten gegen Korruption) des Europarats hat das Schweizer System der Richterwahl und die Tatsache, dass Schweizer Richter Parteisteuern an die sie portierende Partei bezahlen müssen, mehrfach ubd völlig zu Recht als «institutionell anfällig für Korruption» bezeichnet.
In einem Evaluierungsbericht von 2017 empfahl das Gremium, die Wahl und Amtsführung von Richtern zu reformieren, um mögliche Abhängigkeiten zu vermeiden und die Unabhängigkeit der Justiz zu stärken.
So ein System verdient kein Vertrauen, und daher auch seine Akteure nicht.