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Kolonialismus nach Schweizer Art

Die Ausstellung «kolonial« im Zürcher Landesmuseum zeigt erstmals einen umfassenden Blick auf die Schweiz und ihre koloniale Vergangenheit. Erst in den letzten Jahrzehnten kam Licht in das düstere Kapitel Kolonialismus, Sklaverei und die Rolle der Schweiz.

Die Schweiz habe nichts zu tun mit den kriegerischen Eroberungen in Afrika, Asien und Amerika, sie habe ja gar nie eine Kolonie gehabt. Das vermittelte der Geschichtsunterrricht, noch weit bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts. Was hinter dem Begriff Kolonialwarenladen steckte, oder warum man in der Sonntagsschule seine Münze einer knieenden Holzfigur mit weissem Gewand und dunklem Kopf gab und sie nickte, darüber machte man sich keine Gedanken. Und wer seinen Teller nicht leer machte, hörte den Spruch von den armen Kindern in Indien.

Kolonialreiche 1898, vor dem Spanisch-Amerikanischen Krieg, dem Boxeraufstand und dem Zweiten Burenkrieg. Wikimedia commons

Kolonialstaaten waren die anderen. Selbst als auch in der Schweiz der globale Süden mit ehemaligen Kolonien und Entwicklungsländern ins Blickfeld kam, behielt der Staat seine weisse Weste. Nach und nach wurden einzelne Unternehmen kritisiert, beispielsweise das Engagement in Südafrika, oder Rohstoffkonzerne mit Sitz in der Schweiz: Schweizer Geschichte findet auch ausserhalb der Landesgrenze statt.

Menschen aus Afrika wurden auf Baumwollfeldern in Amerika versklavt. Blick in die Ausstellung. Schweizerisches Nationalmuseum

Die Ausstellung umfasst in einem ersten Teil elf Kapitel von den Anfängen der Versklavung bis zur Dekolonisierung nach dem zweiten Weltkrieg. Ein zweiter Teil regt an, über das koloniale Erbe der Schweiz nachzudenken, die Spuren von Kolonialismus im Alltag wahrzunehmen, den strukturellen Rassismus sichtbar zu machen sowie über Fragen nach der Wiedergutmachung und nach der Verantwortung des Staats und jedes einzelnen nachzudenken.

Flugpionier Walter Mittelholzer (1894-1937) setzt mit dem rassistischen Blick eine abessinischen Frau ins gewünschte rechte Licht, 1934. ETH-Bibliothek Zürich

An einer Führung teilnehmen oder genug Zeit einplanen ist fast zwingend, will man sich die komplexen Zusammenhänge erschliessen. Erst recht hilfreich ist die Begleitpublikation kolonial. Globale Verflechtungen der Schweiz, in der mit Bildern, Dokumenten und Essays von Fachleuten die Geschichte aus verschiedenen Blickwinkeln vertieft wird.

Menschenhandel, Manufaktur Kilchberg-Schooren, Kilchberg, um 1775, Porzellan, bemalt

Für die Ausbeutung, Versklavung und Ermordung anderer Menschen ist die Entmenschlichung Voraussetzung. Was den Holocaust erst möglich machte, galt viel länger schon für die Sklaverei: Die Menschen in Afrika wurden kurzerhand als minderwertig, näher an der Spezies Affen als an den weissen Menschen in Europa, abqualifiziert, also konnten sie auch wie Tiere gehalten, misshandelt, umgebracht werden, ohne Schuldgefühle, Mitleid oder gar Solidarität.

William O. Blake: Menschliche Fracht, 1857. Wikimedia Commons

In der ersten Hälfte des 16. Jahrhundert hat der St. Galler Hieronymus Sailer, der in ein Augsburger Handelshaus einheiratete, das Recht erworben, 4000 Menschen aus Westafrika in die Karibik zu verschleppen. Es ist der früheste Nachweis einer Schweizer Beteiligung. An dem Dreieckshandel – Deportation und Versklavung von Menschen aus Afrika, Ausbeutung auf Plantagen, Transportflotten, Handel mit den Gütern aus den Kolonien – waren sehr viele Schweizer Unternehmen und Händler beteiligt. Denn viele afrikanische Menschen wurden nicht einfach gekidnappt, sondern den indigenen Herrschern abgekauft. Beliebtes Gut waren Indienne-Stoffe, welche extra für diesen Zweck angefertigt worden waren.

Dieses Fragment ist wohl der einzig erhaltene Indienne-Stoff, der eigens für den Tausch gegen Versklavte produziert wurde. Le lion et la chèvre, Manufacture Petitpierre & Cie, Nantes, um 1790. Schweizerisches Nationalmuseum

Von 1880 an war die Schweiz eine bedeutende Drehscheibe des Rohstoffhandels. Das ist heute noch der Fall, wie die Ausstellung kolonial mit der Frage Und Heute? die jedes Kapitel beschliesst, hier anmerkt: Wir erfahren, dass 2021 fast tausend Rohstoffhandelsfirmen vor allem in den Kantonen Zug und Genf registriert waren, ein Viertel des Welthandels läuft also über die Schweiz.

Sklavenmarkt in New Orleans. Harper’s Weekly, January 24, 1863

Abschaffung des Sklavenhandels. Satire auf den Abolitionismus: Schwarzer Mann in bestickter Jacke, Spitzenkragen und Hosen schlägt einen halbnackten weißen Mann auf den Knien; links und rechts im Vordergrund ragen Köpfe von Folly und Regulation aus dem Boden. Im Hintergrund sind weiße Männer links bei der Ernte zu sehen, rechts sitzen schwarze Männer beim Bankett. 26. Mai 1789. Handkolorierte Radierung, 1789

Nicht die Eidgenossenschaft als Staat war im Kolonialismus aktiv, aber das Söldnertum setzte sich fort, Kriegsdienste wurden auch in Übersee geleistet. Charles-Daniel de Meuron (1738-1806) rekrutierte 1782 ein Schweizer Regiment von 1100 Mann für die Ostindien-Kompanie der Niederlande, das in Ceylon zum Schutz der Zimtplantagen eingesetzt wurde. De Meuron vermachte seine gesammelten Objekte vom Kap der Guten Hoffnung, wo er im Gegensatz zu seinen Söldnern fürstlich lebte, der Stadt Neuenburg.

Ausstellungsansicht. Schweizerisches Nationalmuseum

Zum brutalen Schlächter von Indigenen wurde Hans Christoffel (1865-1962) in der Kolonialarmee von Niederländisch-Ostindien. Eine als kurze Militärexpedition geplante Unterwerfung des Sultanats in Aceh auf Sumatra entwickelte sich zu einem langen Krieg, der 75’000 Indigenen und 25’000 Kolonialsoldaten und Zwangsarbeitern auf niederländischer Seite das Leben kostete. Die niederländische Königin Wilhelmina ehrte Christoffel 1908 mit einem Ehrensäbel trotz dieser Massacker.

Manager House in Deli, Karl Krüsi, Sumatra, 1885. Krüsi (1855–1925) verkauft seinen Besitz 1883. Nun vermögend baut er in Zürich die Villa Sumatra.  Schweizerisches Nationalmuseum

An der Vertreibung indigener Völker von ihren Stammlanden war ebenfalls nicht der Staat Schweiz beteiligt, aber etliche Gründer von Schweizer Siedlungskolonien mit Auswanderern, denen Land auf angeblich unbewohnten Flächen zugewiesen wurde. Einer der bekanntesten und noch bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts unkritisch als Held verehrten Koloniegründer war General Johann August Sutter 1803-1880), der grosse Ländereien, genannt Neu-Helvetien, in Kalifornien besass.

Die Missionarsfamilie Zimmermann-Mulgrave um 1873. Archiv Basler Mission.

Den kriegerischen Eroberern folgten bald die Missionare, deren Ziel es war, den Heiden in aller Welt den christlichen Glauben aufzuzwingen. Die christlichen Religionen und damit die europäische Kultur galten als überlegen, Indigene als minderwertig und oft auch dumm. Immerhin haben einige Missionen auch für Bildung und Gesundheit in ihren Einflussgebieten gesorgt.

Der Schweizer Geologe Arnold Heim (1882–1965) forscht auf allen Kontinenten. Viele seiner Forschungsreisen sind von Ölfirmen finanziert. Im Verlauf seiner Karriere entwickelt er sich zum Naturschützer und Befürworter der Dekolonisierung. Virunga-Expedition, Mutandasee (Uganda), 1954. ETH-Bibliothek Zürich

Neben den Söldnern suchten die Kolonialmächte auch Experten verschiedener Berufe in der Schweiz. Sie bauten unter anderem Eisenbahnen oder Brücken, wurden als Beamte eingesetzt und trieben Steuern ein. Die Erforschung der Kolonien interessierte auch Schweizer Wissenschaftler und Naturforscher. Sie untersuchten Menschen, Tiere und Pflanzen vor Ort, eigneten sich indigenes Wissen an und brachten Artefakte, Fundstücke und menschliche Überreste in Schweizer Museen.

Fritz und Paul Sarasin forschen in Ende 19. Jh. in Britisch-Ceylon und Celebes, damals Teil der niederländischen Kolonien. Sie gehen aber auch auf Grosswildjagd. Das Jungtier dieses erlegten Elefanten wird dem Basler Zoo überbracht. Sarasins in Sri Lanka, 1883–1907. ETH-Bibliothek Zürich

Und Heute? Was beispielsweise kann ein naturhistorisches Museum mit zahlreichen Elefantenstosszähnen oder einem Haufen Löwenfellen anfangen, die aus der Trophäenjagd quasi im Dienst des Museums stammen? Die Objekte wenigstens dem Landesmuseum für eine Ausstellung ausleihen.

Neue Autorität für die Schweizer «Rassenforschung» wollte Marc-Rodolphe Sauter (1914–1983) noch nach dem Zweiten Weltkrieg sein. Foto vor 1952. Bibliothèque de Genève

Über der ganzen Kolonialgeschichte und bis in die Gegenwart liegt die Vorstellung, es gebe auf der Welt verschiedene Rassen, und alle seien den weissen Euopäern unterlegen, was sich beweisen lasse. Der sogenannte wissenschaftliche Rassismus rechtfertigte die Ausbeutung der Kolonisierten, und noch bis heute machen sich Bilder romantischer Exoten in allen Lebensbereichen unhinterfragt breit.

Virtuelles Panel zum Kolonialismus, zur Emigration, und zu strukturellem Rassismus als Abschluss der Ausstellung.

Nach dem zweiten Weltkrieg wurden immer mehr kolonisierte Gebiete als unabhängige Staaten neu konstituiert. Diese neuen Nationen wurden als gewinnbringende Absatzmärkte auch für Schweizer Unternehmen wichtig, wobei das Gefälle zwischen dort und hier – dort Rohstoffe und hier Verarbeitung mit Gewinnmaximierung – die Kolonialgeschichte fast nahtlos fortsetzt.

Titelbild:«De chli Pflanzer»: In der Plantagenwirtschaft auf Sumatra, damals Teil des niederländischen Kolonialgebiets, profitieren Schweizer als weisse Europäer von kolonialen Arrangements, wie Zugang zu Land oder billiger Arbeitskraft. Schweizer Tabakplantagen-Administrator aus Stäfa mit Sohn, Kotari, 1921. Privatbesitz

Bis 19. Januar
Informationen für den Besuch von «kolonial»
und zur Begleitpublikation

 

 

 

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3 Kommentare

  1. Die gut strukturierte historische Kolonialgeschichte unseres Landes hat Eva Caflisch prägnant und gut verständlich zusammengefasst. Wir sind nicht ohne «Schuld» und dies auch heute nicht.
    Mit der globalen politischen Bewegung braucht es auch heute noch mehr Sensibilität und Aufmerksamkeit über die weltweiten Bewegungen, die unsere Demokratie destabilisieren wollen. Sind wir heute sensibler und aufmerksamer als gestern?
    Geri Schaller-Stierle

  2. Der verborgene Kolonialismus ist auch ein Gesicht der Schweiz. Profit machen, auch von Kriegen, scheint bis heute ein fester Bestandteil unseres Denkens und Handelns zu sein. Verachtenswert finde ich nur, dass die Profiteure, die Politik und die Geschichtsschreibung nicht dazu steht. Wir sehen uns doch noch immer gern als die Guten und Besseren als die Anderen und wollen um Gotteswillen nicht zu einer solidarischen Gemeinschaft wie der EU gehören. Wir wollen unseren hohen Lebensstandard um jeden Preis behalten und wenn immer möglich, noch etwas reicher werden. Die Länder Europas mussten Tod und Zerstörung des zweiten Weltkriegs schmerzlich erleben und haben gelernt, mit Schuld, Verlust und Neubeginn umzugehen.

    Ich vermute, mit der neuen Ära Trump und Co., die von Amerika zu uns herüber schwappt, werden die Menschen nicht solidarischer und friedlicher, im Gegenteil. Die Schleusen in den sozialen Medien werden geöffnet und künftig wird Hass und Hetze, Profit und Gier, Egoismus und Falschheit freien Lauf gelassen. Da werden bestimmt auch einige Schweizer:innen mutiger und sich angesprochen fühlen im selben Dreck zu wühlen und lautstark unsere demokratischen Werte verraten. Der Zeitpunkt ist gekommen dazu zu stehen, wer wir sind und für was wir als politisches Land und als Volk inmitten des Europäischen Kontinents in Zukunft einstehen und kämpfen wollen.

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