4 KommentareOrte des Glücks - Seniorweb Schweiz

Orte des Glücks

Seit einiger Zeit beschäftige ich mich mit Glücksorten. Ich meine damit nicht geografische Orte, sondern eher Landschaften und Räume, die in einem selbst etwas in Gang setzen. Die so etwas wie Ankunft, wie Zugehörigkeit, wie Gewissheit vermitteln: Hier bist du richtig. Von ihnen geht etwas schwer zu Beschreibendes aus, etwas Anziehendes, vielleicht so etwas wie Magie. Damit wir uns richtig verstehen: Ich meine nicht sogenannte Kraftorte, die alle aufsuchen, um Energie zu tanken, sondern jene persönlichen Orte, an denen Sie die Frage von Fischli/Weiss auf dem Cover ihres Künstlerbuch aus dem Jahr 2003 mit Ja beantworten können: Findet mich das Glück? Mir passiert das immer wieder in Bibliotheken, den für mich genialsten Orten ever.

Meine erste Bibliothek bestand aus drei Regalbrettern in einem Schulzimmer für über vierzig Kinder und einer Nonne, die den ganzen Erstklasstrupp zu bändigen hatte. Nach den ersten paar Schulwochen hatte ich die Bücher auf den drei Brettern gelesen: Märchen, brave Mädchenbücher und Heiligenlegenden. Es gab auch eine Schulbibliothek, aber Erstklässlerinnen hatten keinen Zutritt, auch nicht zu der noch grösseren Pfarreibibliothek, die ich mir als eine Art Himmel vorstellte.

Schliesslich machte meine acht Jahre ältere Schwester mit mir einen Deal: Sie brachte mir jede Woche Bücher aus der Jugendabteilung der Pfarreibibliothek mit, während ich zuhause nie verriet, dass sie sonntags nicht in die Kirche ging, sondern sich mit ihren Freundinnen traf. Zudem musste ich ihr ein paar Stichworte zur jeweiligen Sonntagspredigt liefern für den Fall, dass Vater nachfragte.

Später verbrachte ich meine schönste Zeit im Lehrerseminar in seiner zweistöckigen Bibliothek. Meine allerglücklichste Woche dort war, als ich statt ins Skilager zu müssen eine Woche lang die Bibliothek aufräumen und Bücher und Regale ein wenig abstauben durfte.

In jeder neuen Stadt suche ich nach den öffentlichen Bibliotheken und verweile dort oft sehr lange. Schön ist, dass es dort immer häufiger Arbeitsplätze, mit Lesesessel und Sofas gibt, die dazu einladen, zu verweilen und neue Lektüre mit Bedacht auszuwählen. Oder ganz einfach dort zu sitzen, in all den Büchern, in Gesellschaft lesender Menschen und freundlicher Bibliotheksmitarbeitenden, deren Leben ich mir als einziges Lesemärchen vorstelle. Obwohl ich weiss, dass sie administrieren, registrieren, katalogisieren, organisieren, informieren, digitalisieren und einfach nur ihren Job machen, wie es in der Werbung heisst, und dass dieser Job nicht beinhaltet, dass sie den ganzen Tag lesen können. Aber träumen wird man ja noch dürfen, oder?

Die Bibliothek und das Stadtarchiv, ein lebendiges literarisches Zentrum in der Mitte von Tromsø Nordnorwegen, eröffnet 2005. Bild zvg

Neulich habe ich einen Traum verwirklicht. Tromsø, jene Stadt im hohen Norden, die ich schon mehrfach sommers besucht habe, im Winter zu erleben, so hiess das Vorhaben. Natürlich hoffte ich auch auf das Nordlicht. Es kam anders. Die ab fünfzehn Uhr bereits wieder dunkle Stadt lag unter einem Eispanzer, ohne Spikes an den Schuhen ging gar nichts und die Angst, zu stürzen, lief immer mit. Dann verschwand die Eiseskälte, an ihre Stelle traten Dauerregen und heftige Winde, aber keine wabernden Nordlichter am Himmel, kein knisternder Schnee unter den Füssen. Nur, was im Winter als mein Ort des Glücks noch heller strahlte als in den überbelichteten Sommer, das war… die Bibliothek. Auf sie ist in jeder Jahreszeit Verlass und sie bleibt mein persönliches Nordlicht und genau solche Erlebnisse wünsche ich Ihnen auch.

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4 Kommentare

  1. Ich fühle mit Ihnen. Lange Jahre habe ich dank Büchern mein Wissen und Gewissen erweitert und hinterfragt. Als alter Mensch bin ich bescheiden und anspruchsloser geworden. Ich sehe viele Wiederholungen in Büchern und Diskussionen, vieles an das ich glaubte und meinen Halt fand. Oft bin ich auch meinen Wunschvorstellungen erlegen. Heute bin ich ernüchtert und suche mein Gleichgewicht in meinem Innern und Erlebten, immer im Austausch mit der Wirklichkeit.

  2. Vielen Dank für diesen Text, er tröstet mich gerade sehr. Bibliotheken sind auch in meinem Leben immer wieder wahre Leuchttürme; Orte von Einkehr und Staunen.

  3. Danke für den schönen Text. Auch ich lese viel. Als Kind hat mir der Sigrist der die Bibliothek leitete erlaubt, die Bücher einerer höheren Klasse zu lesen wenn ich alle anderen schon durch hatte. Dafür war ich ihm immer sehr dankbar

  4. Der Artikel ist sehr sympathisch geschrieben, danke! Ich habe eine Variante zu den Bibliotheken: Wenn ich in Deutschland bin, gehe ich in Büchergeschäfte und stöbere in den Neuheiten herum und vergesse ganz, auf die Uhr zu schauen. Es gibt dort meistens auch Sitzmöglichkeiten, ev. sogar eine Kaffeemaschine… Das kann mindestens 3 Std. dauern- zum Glück wurde ich bis jetzt noch nicht auf die Strasse gestellt!

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