Am 27. Februar, seinem 89. Geburtstag, erscheint sein neues Buch «Lebensacker. Psycho-archäologische Geschichten». Damit blickt Andreas Iten (Titelbild) in seine Kindheit, von dort in die Gegenwart und die Zukunft – und lädt uns ein, dasselbe in unserem Leben zu versuchen.
Die Leserinnen und Leser des Seniorweb kennen ihn als Kolumnisten, einem weiteren Publikum ist er als Romancier bekannt, etwa mit «Maria schrieb einen Brief», «Der Förster» oder «Prestobello», wieder andere schätzen ihn als Lyriker, zum Beispiel mit dem Bändchen «Barfuss», und nochmals weitere als engagierten Essayisten mit «Weltfrömmigkeit» und «Terrasophie», zwei Werken, mit denen er in die philosophische und ökologische Diskussion ums Überleben des Blauen Planeten und des Humanismus im 21. Jahrhundert fundamental und radikal eingreift.
«Lebensacker» überrascht uns mit Psychologie und Pädagogik in Form von Geschichten. Iten schildert, was der Bub, der kleine Andreas, in der Kindheit erlebt hat und betrachtet dies aus der Sicht des 88-Jährigen. Der Bub machte Erfahrungen, die sein Leben begleiten und mitgestalten. In seiner frühen Zeit erhielt er Ratschläge, die zu gültigen Sinnsprüchen für sein Leben wurden und auch im Alter noch wirken. Das Buch zeigt unterhaltsam und spannend, wie Eltern und andere Erwachsene die Kinder zwischen Freiheit und Grenzen, beiläufig oder absichtlich, ins Erwachsenenleben führen. Die drei Dutzend Kurzgeschichten verlinkt der Autor mit der Philosophie, der Kunst und den Naturwissenschaften, Bereichen, in denen sich der veritable «Homme de lettres» auskennt.
Andreas, der Bub
In 36 Kapiteln begleiten wir den Knaben, der überraschende Erfahrungen macht, die zu Erkenntnissen und Einsichten führen, mit denen der kleine Andreas zum grossen Andreas wurde. «Zwischen mir als Buben und als Schreibender liegt eine Lebenszeit von achtzig Jahren. Noch immer frage ich, wer ich bin, obwohl ich schon weiss, was hinter mir liegt. Finde ich in den frühen Erlebnissen und Erfahrungen Anhaltspunkt für eine Antwort? Die Vergangenheit ist immer in der Gegenwart und diese für die Zukunft aufgehoben. Was emotional berührend war, ist im Selbst abrufbar. «Man könnte das, was hier versucht wird, als Sozio-Archäologie bezeichnen», heisst es im «Auftakt», womit er andeutet, dass das Buch sich nicht nur um den kleinen Andreas im Hochtal von Unterägeri dreht, sondern um uns alle, um dich und mich.
Vor dem Elternhaus
«Über die Hackordnung»
In seiner Kolumne vom 23. Januar 2025 illustriert der Autor, exemplarisch, diesen, das Leben des Buben bildenden Prozess an einem der zahllosen frühkindlichen Erlebnisse, mit dem Titel «Über die Hackordnung». Nachfolgend der Anfang des Textes. Bei den andern Kurzgeschichten will ich dem Publikum die Überraschungen nicht vorenthalten, zu schön sind sie, als dass ich sie ausplaudere.
«Als vier-fünfjähriger Bub sass ich oft am Fenster unserer Wohnstube und schaute stundenlang auf den grossen Hühnerhof, der von einem mächtigen Geflecht umhagt war. Besonders spannend war die Fütterung. Trat Vater durch die Öffnung in den Hof, drehten alle Hühner wie auf Kommando den Kopf. Der Hahn stellte seinen Kamm. Warf Vater die Körner in die Mitte, stürzten die Hühner gackernd zum Futterplatz, der Hahn mischte sich erhobenen Hauptes ein und schubste Hühner weg, die ihm im Weg standen. Ihm taten es die fetten Hühner gleich. Die schmalen, dünnen Hühner und der schmächtige kleine Hahn versuchten, am Rand der Schar Körner zu erwischen. Das war ein Ereignis und es schien, dass ich intuitiv erfasste, was sich da abspielte.
Als ich später Studien des Forschers Konrad Lorenz las, der das Verhalten der Gänse, aber auch dasjenige der Hühner erforschte, spielte der Begriff Hackordnung eine zentrale Rolle. Sofort meldeten sich die Bilder aus der frühen Kindheit und ich sah, wie die Hühnerschar sich bei der Fütterung verhielt. Dieses Verhalten war also die Hackordnung. Ich konnte den Begriff verallgemeinern und auf ein ähnliches Verhalten von anderen Tieren anwenden und auch bei den Menschen finden.»
Andreas (r) mit seinen Geschwistern
Und so geht es im «Lebensacker» weiter, Kapitel um Kapitel, Entdeckung um Entdeckung, Erkenntnis um Erkenntnis. Wir lesen von den stets interessanten Begegnungen des Buben mit dem Melker, dem Küfer, dem Schnapsbrenner, dem Lehrer, dem Jäger, dem Kellner, dem Zimmermann, dem Viehdoktor, dem Pfarrer, dem Protestanten, der Jüdin – und den andern Männern und Frauen, die im Hause des Buben von unserer Mutter bewirtet, unterhalten, zum Sprechen gebracht, wenn nötig auch wieder gestoppt wurden. Und es folgen Begegnungen mit dem Schmuggler, dem Basler, der Grossmutter, dem Italiener, dem Polizeipräsidenten, dem Schulkameraden, dem Grossvater, dem Tannenzapfenlehrer usw. Die illustre Ansammlung von Menschen formiert sich zu einem kleinen Welttheater der grossen Welt, einem grossen Welttheater des kleinen Buben.
Happy Birthday
Ich möchte versuchen, die dem Werk zu Grunde liegende Theorie verstehen. Das dem Titel «Lebensacker» nachgeschobene «psychologisch» und «archäologisch» gilt es zu befragen: Der erste Teil zeigt wohl an, dass es um ein wissenschaftliches Durchleuchten des Seelenlebens geht, der zweite, dass dieser Prozess in die Tiefen der Vergangenheit eintaucht. Einen ähnlichen, doch umgekehrten Prozess kennen wir zum Beispiel bei den Traumata der Kriegsopfer. Nicht von der Gegenwart in die Vergangenheit, sondern von der Vergangenheit in die Gegenwart geht es im «Lebensacker»: Von den frühen Erlebnissen wachsen wir, mit Empathie begleitet, ins Heute, ins Morgen, bis ins hohe Alter.
So bietet uns der in diesem Buch verwendete Ansatz einen Beitrag zur Psychologie und mehr noch der Pädagogik: wertvoll für Erzieherinnen und Erziehern, Sozialpädagoginnen und Sozialpädagogen sowie Menschen, die in der Musik-, Theater- oder Kunstpädagogik tätig sind. Damit wird für mich auch klar, was Andreas Iten uns an seinem 89. Geburtstag schenkt: die Einladung zu einem Umdenken, «nun am Lebensende» eine herausfordernde, aber auch bereichernde Metanoia.
Andreas Iten, Lebensacker. Psycho-archäologische Geschichten
Softcover, 152 Seiten, Bucher Verlag, 1. Auflage 2025, ISBN 978-3-99018-730-2
Herzlichen Glückwunsch zu Ihrem Geburtstag, Herr Iten. Ich lese Ihre Kolumne immer sehr gerne. Ich danke Ihnen dafür und Herrn Stadler für seinen Beitrag.
Ich werde das Buch sicher kaufen. Momentan schreibe ich meine Kindheitserinnerungen auf, die ich meinen Kindern und deren Kindern widme. Wir dürfen unseren Erfahrungsschatz weiter geben!