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Die Zukunft im Museum

Nicht nur Faustkeile aus dem Gebiet der Schweiz, Hellebarden aus dem Mittelalter oder wertvolle Schreibtische werden vom Nationalmuseum gesammelt, auch immaterielles Kulturerbe ist sammlungswürdig. Jetzt heisst es im Zürcher Landesmuseum „Techno“.

Am 23. März 2025 hört die Zukunft auf zu existieren, der Gorilla, das lebensgrosse Maskottchen des Clubs im Kreis 4, hat fast zeitgleich im Landesmuseum Platz genommen, prominent mitten in der Techno-Ausstellung. Nebst vielen anderen Gegenständen, Hör- und Seh-Stationen, mit denen die Techno-Szene Zürichs und der Welt dokumentiert wird. Und zu beachten: Die Titelgrafik spielt mit dem CH von Techno.

Die Gorilla-Figur aus dem Club «Zukunft» bei ihrem letzten Auftritt im Museum. © Club Zukunft. Foto: Schweizerisches Nationalmuseum

Begonnen hat die Erfindung vollelektronischer Musik in Detroit, als die Autoindustrie einbrach, die weisse mittelständische Bevölkerung in die Agglomeration flüchtete und verarmte, arbeitslose schwarze Menschen im abgewirtschafteten Zentrum zurückblieben. Detroit war mit dem Soul- und Funklabel Motown längst ein Zentrum von Black Music, nun wurde von Tüftlern mit früher Elektronik Techno erfunden, wurden in den Fabrikruinen Partys veranstaltet. Pioniere gab es auch, beispielsweise Kraftwerk, eine deutsche Band gegründet in den 70er Jahren, die übrigens 2025 auf Tournee geht.

Ausstellungsansicht mit dem Lethargy-Logo und Techno-Mode. © Schweizerisches Nationalmuseum

Deindustrialisierung und eine unzufriedene Jugend waren auch in Zürich oder Berlin Treiber für die neue Musik: Tanzen in der Menge nach Rhythmen und Sounds, Tanzen ohne Sprache in Liedtexten oder sprechen mit dem Gegenüber, tanzen zusammen mit Hunderten von anderen, das bringt Befreiung vom Druck des Alltags. In den 80er und 90er Jahren ist eine Jugendkultur mit hoher Kreativität entstanden, die nach 2000 kommerzieller wurde, deren gesellschaftspolitische, wirtschaftliche und ästhetische Wirkung jedoch bis heute nachwirkt. Grund genug für das Landesmuseum, dieses immaterielle Kulturerbe auszustellen.

Synthesizer Korg MS 20 um 1980 © Schweizerisches Nationalmuseum

Mit der Musik allein, zunächst elektronisch erzeugt mit Sampling und urtümlichen Synthesizers, heutzutage wird auf dem Computer oder Tablet komponiert, lässt sich keine Ausstellung machen. Techno-Musik ging einher mit erfindungsreicher Mode, Grafik und Typographie, wie sie ohne Digitalisierung nicht hätte geschaffen werden können.

Farbe und Glitzer: Catsuit und Teddy-Jacke 1990er Jahre © Susanne Bartsch. Anzug mit Spiegelchen 2001 getragen vom DJ Golden Boy. © Fotos: Schweizerisches Nationalmuseum

Eine Menge an Plakaten, Flyers für Partys und Schriftzügen für Lokale und Events wurden produziert, und mit den revolutionären Sounds entwickelte sich eine ebensolche Mode: Pionierin war Jenny Jost, Gründerin des Labels Hi-Fish, die mit ihrer Camouflage-Unterwäsche den Durchbruch in der Szene hatte. Die Designerin war auch Partygängerin, die Szene war lokal und international verflochten, ist es dank der global auflegenden DJs immer noch: Siehe das Line-up der letzten drei Nächte in der Zukunft.

Im Gugelmann-Areal veranstaltete ein Elektrotechnik-Lehrling gleichnach der Schliessung die erste Techno-Party. © ETH-Bibliothek Zürich. Foto: Hans-Peter Bärtschi 

In den Anfängen, als Techno-Partys und Raves den Disco-Clubs Konkurrenz machten, nahmen sich die Veranstalter auch hierzulande ihre Partyräume, besetzten verlassene Fabrikareale wie etwa die Textilfabrik Gugelmann in Roggwil und veranstalteten illegale Partys. Parallel entwickelten sich die gigantischen Raves in den Strassen – heute ist die Street Parade in Zürich das weltgrösste Fest dieser Art – und die Clubveranstalter konnten um die Jahrtausendwende Geld verdienen, sich legalisieren und geeignete Räume mieten, müssen seither aber auch mit der Kündigung wegen Gentrifizierung rechnen: siehe das Schicksal der Zukunft, jüngstes Beispiel in der Zürcher Clubgeschichte.

Die allererste Zürcher Streetparade fand am 5. September 1992 statt. © Foto: Thomas Eugster

Aber werfen wir einen Blick auf die Ausstellung: Mitten im Aufgang der grossen Treppe im Neubau steht eine Art Bühne aus Stahlrohren mit Logos, Labels und Plakaten, von weither lesbar: Happy People. In dem Gestell gibt es Modelle von Love-Mobilen. Etwas weiter ein Maschinenraum: Mit elektronischen Ungetümen, beispielsweise dem Synthesizer Korg MS 20 wurde erster Technosound hergestellt. Die frühere Generation der DJ-Stars reisten mit Plattenkoffern vom einen zum nächsten Auftrittsort. Heute ist das Gepäck leichter: ein Tablet reicht. Das schwere Equipment, die technischen Anlagen und die riesigen Lautsprecher stehen vor Ort. Auch im Landesmuseum: Von Zeit zu Zeit erschüttert eine Bass-Welle das Gebäude, auch der Sound ist ausgestellt.

Zum Verweilen, Musik hören und lesen: der Plattenladen im Museum. © Schweizerisches Nationalmuseum

Ein Plattenladen fast wie früher lädt ein zur Sucharbeit in den Fächern, wo schön geordnet nach Ambient, Acid, New Beat undsoweiter Dutzende von LPs stehen, jeweils daneben eine Soundstation – Auflegen ist nicht nötig, die Musik gibt es zum abrufen auf die Ohren. Dekoriert ist der Plattenladen mit Sitzgelegenheiten, Zeitschriften und Posters von Partys in der Schweiz. Wussten Sie, dass New Beat auf den Schweizer Musiker und Produzenten Carlos Perón zurückgeht, der Gründungsmitglied von Yello war?

Aktionsfahrzeug Glitzer-Ritze 2012, das bei Partys, aber auch bei Frauendemos eingesetzt wurde. © Privatsammlung Nathalie Brunner, Verein Les Belles de Nuit. Foto: Schweizerisches Nationalmuseum 

Die anschliessende Fotogalerie zeigt Räume der Technokultur von Lausanne über Roggwil bis Zürich. Wo Techno erklang, kam es zu Lärmklagen. Eine Wand zeigt Nein-Plakate zu den Vorlagen für die Aufhebung der Polizeistunde. Heute geht es sogar während der Street Parade manierlich zu: um Mitternacht ist Schluss mit Freiluft-Party. Weitergetanzt wird drinnen, beispielsweise an der Letargy.

Logo der Ausstellung © Schweizerisches Nationalmuseum

Dort hat der Filmer Bogomir Doringer aus der Vogelperspektive das Tanzkollektiv aufgenommen und erkannt, dass Empathie, Lebensfreude und spontanes generieren von kollektiven Tanzformen dazugehört. Techno kann auch Flucht aus dem schwierigen Alltag und Widerstand sein. Doringers Arbeiten aus ukrainischen Clubs zeigen Soldaten auf Fronturlaub, die Abstand und Heilung von traumatischen Erfahrungen im Tanz suchen.

Abstimmungswerbung gegen die Aufhebung der Polizeistunde

Techno bietet anders als jede andere Tanzform die Möglichkeit, ganz für sich abzutanzen und sich zugleich als Teil von etwas Grossem zu spüren – da sind bewusstseinserweiternde Drogen nicht weit. Im Museum steht in der Drogen-Ecke auch das in der Schweiz entwickelte mobile Analysegerät, dank dem Konsumenten ihre soeben gekaufte Pille testen lassen können. Mit oder ohne Drogenkonsum, Techno ist ein Raum der freien Entfaltung und ein Ort, wo soziale Durchmischung stattfindet – gescheit reden ist hier so wenig gefragt wie einzelne Musikstücke zu kennen oder über Quantentheorie zu quatschen.

Selbst DJ spielen mit der Sample Bar: Was immer man anstellt, es klingt gut (dem Programmierer sei Dank)

Letztlich bleibt die Kurzformel: Eine kreative Subkultur wird professionalisiert, dann kommerziell angeeignet zum Mainstream und schliesslich museumswürdig. Viele der Exponate in der Ausstellung sind aus Privatsammlungen und zum Glück noch nicht in der Kehrichtverbrennung gelandet. Ausserdem ist eine Begleitpublikation entstanden, die nebst Abbildungen eine Playlist zum herunterladen, Essays sowie Interviews mit Persönlichkeiten der Szene bietet. Viola Zimmermann, Tänzerin seit den Uranfängen und DJ sieht die künftige Entwicklung leicht ironisch so: „Die Zukunft geht zu Ende, … das Fitness-Studio ist der neue Ausgang.“

Titelbild: Die Pforte zur Techno-Expo: Musik – Drogen – Hedonismus. © Schweizerisches Nationalmuseum

Bis 17. August 2025

Publikation: TECHNO. Einblick in die Technokultur der Schweiz mit internationalen Bezügen. Mit QR-Codes zu kuratierter Playlist und Videointerviews. Hg. vom Schweizerischen Nationalmuseum. ISBN 978-3-905875-50-8

Hier finden Sie weitere Informationen und die Liste der Führungen und Veranstaltungen,

 

 

 

 

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