StartseiteMagazinKolumnenEin bisschen Bichsel muss schon sein

Ein bisschen Bichsel muss schon sein

In einer aufgeregten Zeit, wo alles durcheinandergerät, helfen Peter Bichsels Geschichten, das Gemüt zu besänftigen. In allen Medien wurde an den Dichter, der am 15. März verstorben ist, erinnert. Hervorgehoben wurde das Buch mit der Titelgeschichte: «Eigentlich möchte Frau Blum den Milchmann kennenlernen.» Dem Grosskritiker Marcel Reich-Ranicki gefiel es beim Erscheinen im Jahr 1964 derart gut, dass es nach seiner Rezension in der «Zeit» den Weg in die weite Welt der Literatur fand. In die heutige Zeit würde auch Bichsels «Cherubin Hammer und Cherubin Hammer» gut passen. Man weiss da lange nicht, ob dieser doppelte Hammer ein armer Schlucker oder ein reicher Unternehmer war.

Doch ich verweile noch etwas bei Frau Blum. Ihre Geschichte wurde sogar von einem Bichsel-Verehrer als eine der schönsten Liebesgeschichten gelobt. Ich teile das Urteil nicht, aber man kann es natürlich so sehen. Denn man liebt ja meist das Bild des Partners, jedenfalls am Anfang, bis man ihn oder sie real besser kennt. Da der Milchmann, den Frau Blum kennenlernen wollte, morgens um vier Uhr die Milch, den Käse oder die Butter in den Briefkasten stellte, konnte sie ihn nicht kennen lernen. Um vier Uhr beim Milchkasten stehen wäre verdächtig gewesen. Vielleicht aber sah sie vom Zimmerfenster aus seinen Schatten und dachte, er sei ein stattlicher Mann.

Die Psychologie belehrt uns, dass das Bild des Menschen bei Liebesgeschichten vor der Realität steht. Man darf annehmen, dass dies auch bei Frau Blum der Fall war und dass sie sich vorstellte, dass es schön wäre, den Milchmann kennen zu lernen. Viele Liebesgeschichten sind das Resultat einer Vorstellung, und dass einer oder eine sich täuschen kann, lässt sich an der immer höher werdenden Scheidungsrate ablesen.

In der Geschichte «Das Messer» schreibt Bichsel, die Marschmusik könne etwas Peinliches haben. «Das einzige, was man tun könnte, wäre stehenbleiben; denn geht man ohne zu denken, geht man im Takt.»

Anlässlich einer Landsgemeinde in Appenzell Innerrhoden hatte ich das Vergnügen, Peter Bichsel und Bundesrat Willi Ritschard kennen zu lernen. Als ich in der Reihe der Behörden und Gäste in leicht wogendem Schritt nach dem Takt der Ode «Alles Leben strömt aus Dir …» zum Landsgemeindeplatz mitging, fasste ich den Schritt des Bundesrats ins Auge. Ich bemerkte, dass er immer wieder aus dem Takt fiel. Das gab mir zu denken. Nun da ich Bichsels Worte lese, frage ich mich, ob ihm damals dieses bundesrätliche «Aus-dem-Takt-fallen» Inspiration war.

Bichsel war ein guter Beobachter. Er habe für Ritschard Reden geschrieben und den populären Magistraten damit noch populärer gemacht als den einen, von dem jedermann in der Schweiz zu glauben wusste, was ihr Bundesrat Ritschard denke, nämlich dasselbe wie er. Wer als Magistrat diesen Status erreicht, gelangt auf den Höhepunkt der Popularität.

Als ich hinter Ritschard schreitend bemerkte, wie er aus dem Tritt fiel, dachte ich, der Bundesrat sei wahrscheinlich nicht musikalisch. Nun belehrt mich Bichsel, dass ich da falsch dachte. Vielmehr weiss ich nach der Lektüre jetzt, dass derjenige, der nicht denkt, nicht aus dem Takt fällt. So entschuldige ich mich posthum bei Bundesrat Ritschard und überlege mir, ob er allenfalls an einer Pointe gefeilt hatte, welche er bei der Dankesrede beim Bankett mit «Weissen Würsten» anzubringen hatte. Das absolut wohltuende an Bichsels Geschichten ist, dass sie zum Weiterfabulieren anregen.

Spenden

Wenn Ihnen dieser Artikel gefallen hat, Sie zum Denken angeregt, gar herausgefordert hat, sind wir um Ihre Unterstützung sehr dankbar. Unsere Mitarbeiter:innen sind alle ehrenamtlich tätig.
Mit Ihrem Beitrag ermöglichen Sie uns, die Website laufend zu optimieren, Sie auf dem neusten Stand zu halten. Seniorweb dankt Ihnen herzlich.

IBAN CH15 0483 5099 1604 4100 0

Kommentieren Sie den Artikel

Bitte geben Sie Ihren Kommentar ein!
Bitte geben Sie hier Ihren Namen ein

Beliebte Artikel

Mitgliedschaften für Leser:innen

  • 20% Ermässigung auf Kurse im Lernzentrum und Online-Kurse
  • Reduzierter Preis beim Kauf einer Limmex Notfall-Uhr
  • Vorzugspreis für einen «Freedreams-Hotelgutschein»
  • Zugang zu Projekten über unsere Partner
  • Massgeschneiderte Partnerangebote
  • Buchung von Ferien im Baudenkmal, Rabatt von CHF 50 .-