Tim Jackson fordert in seinem Buch «Ökonomie der Fürsorge» eine Transformation unseres Wirtschaftssystems. Die Wirtschaft hat sich an dem zu orientieren, was wir wirklich brauchen und was unser Wohlergehen wirklich fördert.
Im ersten Kapitel stellt Jackson zwei Thesen auf, die ihm während der Corona-Epidemie immer klarer geworden sind. « Die erste besagt, dass menschlicher Wohlstand, bei Lichte besehen, in erster Linie mit Gesundheit zu tun hat, nicht mit Reichtum. Deswegen sollte sich zweitens, die Wirtschaft zuallererst um Care in all ihren Formen kümmern, anstatt – wie bisher – auf unablässiges Wachstum zu setzen.»
Tim Jackson, Direktor des Centre for the Understanding of Sustainable Prosperity, Professor für nachhaltige Entwicklung an der University of Surrey (UK)
«Gesundheit» versteht Jackson in einem weiten Sinne und stützt sich dabei auf die WHO-Definition von 1948, wonach sich Gesundheit als einen «Zustand von vollständigem physischem, geistigem und sozialem Wohlbefinden, der sich nicht nur durch die Abwesenheit von Krankheit oder Behinderung auszeichnet.» Damit geht diese Gesundheitsdefinition weit über das Gesundheitsverständnis von Medizinern hinaus, die sich um die Bekämpfung von physischen und im Falle des Psychiaters um psychische Krankheiten kümmern. Mit dieser Definition ist ein ganzheitliches Wohlergehen angepeilt. Und es geht ihm nicht bloss um die individuelle Gesundheit, sondern auch um soziales Wohlergehen, um Wohlergehen in der Gemeinschaft und um das Wohlergehen aller auf diesem Planeten. Eine Wirtschaft, die auf grenzenlosem Wachstum, Profitmaximierung und auf Konkurrenzkampf aufgebaut ist, ist mit diesem Gesundheitsbegriff nicht vereinbar.
Beim Care-Begriff lehnt sich Jackson an die Definition der Autorinnen Fischer und Tronto an, die Care definieren als «eine Tätigkeit, die alles umfasst, was wir tun, um unsere ‘Welt’ zu bewahren, fortzuführen und zu reparieren, damit wir in ihr so gut wie möglich leben können.» Damit ist nicht nur der sorgende Umgang mit Kranken und Schwachen, für unsere Familie und die Gemeinschaft gemeint, sondern auch mit dem Planeten und allen Lebewesen, die darauf leben.
Die Frage ist nur, wie kann eine profitgetriebene Gier des Wirtschaftens in eine Care-Ökonomie transformiert werden. Im Moment erhalten wir ja besten Anschauungsunterricht, wie es nicht geht: Militärische Aufrüstung statt Bekämpfung des Hungers. Rückweisung von Flüchtlingen statt Verbesserung der elenden Lebenssituation, die Millionen zur Flucht zwingen. Nationalismus statt gemeinsame Sorge um den Planeten. Konsumismus statt vernünftige Selbstbeschränkung mit materiellen Gütern. Krieg statt Frieden. Egomane Gier statt gerechte Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums.
Jackson schlägt vor, den Mythos des kapitalistischen Wachstums durch den Mythos von Care zu ersetzen. Der Kapitalismus schafft Gewinner und Verlierer, Arme und Reiche und dies alles unter einem Zeitdiktat. Denn Zeit ist Geld und deshalb muss die Arbeitsproduktivität erhöht werden, was zu Stress und Burnout führt. Eine Care-Ökonomie, die auf Sorge und Fürsorge basiert, ist langsam: «Fürsorge erfordert Aufmerksamkeit. Und Aufmerksamkeit braucht Zeit. Die Aufmerksamkeit, die ein Mensch einem anderen entgegenbringt, ist das zentrale Wertversprechen der Care-Arbeit. Bei Fürsorgeaktivitäten Zeit einzusparen, gelingt nur auf Kosten des Ergebnisses.»
Eine Wunschliste einer feministischen Ökonomie enthält nach Riane Eisler (2007) folgende Punkte: «Die kulturelle Abwertung von Fürsorge aufdecken; die Dinge messen, die direkt relevant sind; Belohnungen und Anreize für die Care-Arbeit schaffen; Fürsorge als langfristige Investition verstehen; Menschen über die Bedeutung von Fürsorge aufklären; Fürsorge einfordern und für Wandel eintreten; den kulturellen Wandel hin zu einer partnerschaftlichen Gesellschaft unterstützen».
Weitere Vorstellungen einer Care-Ökonomie, die Jackson und seine Kollegin Christine Corlet Walker in Interviews mit ca. 20 Personen erfahren haben: «Das Recht auf allgemeine Gesundheitsversorgung sichern; Löhne und Arbeitsbedingungen von Beschäftigten in der Fürsorge schützen; ein universelles Grundeinkommen zur Unterstützung unbezahlter Fürsorgearbeit einführen; universelle Basisdienstleistungen (wie Ernährung, Wasser, Wohnen, Energie) bereitstellen; Zugang zu Kinderbetreuung für alle; die Verantwortung für Fürsorge auf lokaler Ebene verankern; Rückabwicklung der Finanzialisierung von Fürsorge; Sozialisierung der Bereitstellung von Fürsorge; Geschlechterungleichheiten beseitigen; schädliche finanzielle Subventionen abschaffen; Finanzmärkte im Sinne der Fürsorge regulieren; Ökonomie neu definieren und Ökonomen umschulen».
Herausgegeben wird Jacksons «Ökonomie der Fürsorge» von der Heinrich-Böll-Stiftung. Imme Scholz aus dem Vorstand der Stiftung schreibt in ihrem Vorwort: «Wir sind im eisernen Käfig des Konsumismus gefangen, aber diesen Käfig haben wir selbst gebaut. Wir sind im Wachstumsmythos eingeschlossen, aber der Schlüssel wurde in unseren Köpfen geschmiedet. Unsere Existenz ist physisch und materiell beschränkt, aber in unseren Seelen lebt eine Kreativität, die uns befreien kann, um gemeinsam ein gutes und sinnvolles Leben zu führen.»
Meines Erachtens wäre es besser, statt von einer Ökonomie der Fürsorge von einer Ökonomie der Sorge zu sprechen und dabei auch das Thema der Selbstsorge stärker zu thematisieren. Zudem würde eine Ökonomie der Sorge neben Selbstsorge und Fürsorge auch den Kummer oder und die Besorgtheit (oder gar Angst) anklingen lassen, wenn es darum geht, den profitorientierten Wachstumskapitalismus in der jetzigen Form zu begraben und eine neue Form der sorgsamen Bereitstellung von materiellen Gütern für alle zu kreieren, ohne Hunger und Überlebensängste.
Eine Transformation des jetzigen Kapitalismus in eine postkapitalistische Aera ohne Ausbeutung von Menschen und des Planeten ist eine der wichtigsten globalen Aufgabe der Gegenwart und der nahen Zukunft. Tim Jacksons Buch bietet dazu nicht die Lösung, motiviert aber, in diese Richtung zu arbeiten. So sagt Tim Lang von der Universität London: «Ich wünschte, alle Politiker:innen würden dieses brillante Buch lesen.» Das Buch ist auch für Laien gut lesbar, weil Tim Jackson persönliche Erfahrungen mit strukturellen Forderungen für ein besseres Leben für alle verbindet.
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Zum Titelbild: Zeit ist Geld. Immer schneller arbeiten, um immer mehr Geld zu verdienen. Die Pflänzchen, die aus den aufgetürmten Münzen «spriessen», sind künstlich. Die Natur im Hintergrund ist verschwommen. (Foto von pixabay)
Buch: Tim Jackson, Heinrich-Böll- Stiftung (Hrsg.): Ökonomie der Fürsorge. Warum wir Wohlstand, Gesundheit und Arbeit neu denken müssen. Degrowth statt Wirtschaftswachstum, Wohlfahrtsstaat vor Profit, Care und soziale Gerechtigkeit statt Patriarchat. Berlin 2025. 480 Seiten, ISBN 978-3-98726-100-8
Care Economy ist nicht Ökonomie der Fürsorge!
Lieber Beat, du hast völlig recht: Fürsorge als Übersetzung von Care entspricht nicht der fortschrittlich Vorstellung von Zuwendung und Sorge, wie dies auch die Meinung des Autoren ist. Besser wäre gewesen, Care Ökonomie also Care gar nicht übersetzen. Bei der Sorge ist die Selbstsorge mit drin wie du richtig geschrieben hast. Wichtig ist aber auch, dass der Begriff Fürsorge eine stark paternalistische Komponente hat. Also asymmetrische Beziehung: der Helfende weiss am besten, für wen er was leisten soll. Es fehlt die Vorstellung von Gegenseitigkeit, Gleichstellung und Selbstbestimmung. Das Wort Fürsorge gehört zu einer veralteten, konservativen, patriarchalen Vorstellung von Sozialarbeit. Das will der Autor ganz bestimmt nicht. Schade um das tolle Buch, dass es einen so falschen Titel erhalten hat!
Lieber Beat
Du hast Recht – die Übersetzung von Care Economy ist missglückt. Mascha Madörin verwendet den Begriff „Sorge- und Versorgungswirtschaft“, in ihrem interessanten Artikel in: Arman Spéth et al (Hg.): Schweizer Kapitalismus, Erfolgsmodell in der Krise.
Die geltende Doktrin des immer währenden Wirtschaftswachstums ist nach meiner Meinung am Ende angekommen. Diese Art der Gewinnmaximierung geht immer auf Kosten der nicht wohlhabenden Mehrheit. Das wissen die meisten der Arbeitnehmer:innen und die Manipulatoren der weltweiten Geldwirtschaft schon lange. Aber viel Geld bedeutet auch viel Aufmerksamkeit und deshalb werden die potentiell Reichen immer weiter machen bis es «chlepft». Es kann ein erneuter Börsencrash sein, ein neuer Krieg in Europa oder weltweit, am Ende ist immer die Bevölkerung die Leidtragende. Die ausufernde Habgier einzelner mächtiger Männer wird, wenn kein wirksamer Widerstand einsetzt, die funktionierenden Demokratien zerstören.
Es geht hier nicht um Ökonomie der Fürsorge, sondern um eine Wirtschaft, die die Gesamtheit der Bevölkerung berücksichtigt und miteinschliesst.