Unser Fazit vom Berliner Musikfest 2025: Wenn grosse Sinfonieorchester zeitgenössische Musik aufführen, werden schwierige Werke unverstandener Komponisten zum spannenden Erlebnis und erweitern die Sinne.
Wohl nirgendwo sonst ausser beim Berliner Musikfest wird so viel Neue Musik von grossen Sinfonieorchestern aufgeführt: Es scheint, als ob bei dem Musikfest die übliche Programmierung mit dem bekannten Klassiker als Zugeständnis ans traditionelle Publikum nicht nötig sei, die Konzerte in der Philharmonie sind oft ausverkauft und die Begeisterung zeigt sich in stehenden Ovationen. Besonders erfreut von dieser Anerkennung war der 90jährige Helmut Lachenmann, dessen Suche nach einer «musique concrète instrumentale» (Lachenmann), bei der anstelle des Tons ein ganzer Kosmos instrumentaler Geräuschklänge tritt, lange unverstanden war.
Hochzufrieden: Komponist Helmut Lachenmann mit Solist Pierre-Laurent Aimard (links) und Dirigent Vladimir Jurowski (rechts) mit dem Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin. © Fabian Schellhorn
Im Werk Ausklang für Klavier und Orchester von Lachenmann ist Pierre-Laurent Aimard als virtuoser Solist zu erleben. Der Komponist lotet aus, was sich an Klang und Rauschen an Zirpen, Glöckeln, Klöpfeln oder auch Schreien und Donnern den Instrumenten und erst recht dem Klavier entlocken lässt und hinterfragt das Repertoire der zeitgenössischen Musik. Das «Riesencantabile» fordert angestrengte Aufmerksamkeit und belohnt mit einer Konzerterfahrung, die bleibt.
Pierre-Laurent Aimard mit dem Rundfunk-Sinnfonieorchester Berlin.© Fabian Schellhorn
Die anschließende 11. Sinfonie von Dmitrij Schostakowitsch ist mit Das Jahr 1905 untertitelt und bezieht sich auf den Blutsonntag vom 9. Januar 1905, als der Zar brutal in die Menge unbewaffneter und hungernder Bittsteller vor seinem Petersburger Winterpalast schiessen liess. «Die Musik ist zwar tonal, aber sie tut weh», sagt Vladimir Jurowski, Chefdirigent des Rundfunk Sinfonieorchesters Berlin, es gebe derzeit «kein aktuelleres Stück als die Elfte». Ausgerechnet am Tag des Konzerts hat Russland seinen Drohnenangriff auf Polen geführt.
Madrigale – alte Musik mit «seltsamen» Harmonien, führte das Ensemble Les Cris de Paris versetzt mit Sequenzen der Komponistin Francesca Verunelli auf. © Fabian Schellhorn
Schostakowitsch zitiert Revolutionslieder und Kirchengesänge, darunter die polnische Warszawianka, die sich gegen die russische Besatzung im 19. Jahrhundert richtet. Diese antirussische Botschaft, am Ende operettenhaft aufgelöst mit dem banal orchestrierten Brüder zur Sonne zur Freiheit endend, war der Sowjetführung nicht aufgegangen, während Schostakowitsch die Aufstände 1953 Ungarn und 1956 Ostberlin erinnert, wir an den Überfall auf die Ukraine denken.
Anja Bihlmaier bei der Einführung zum «Roi Ubu» von Bernd Alois Zimmermann. © Marlene Pfau
Unverhüllt sind Ironie und Sarkasmus bei Bernd Alois Zimmermanns Musique pour les soupers du Roi Ubu, serviert vom Deutschen Symphonieorchester Berlin. Dirigentin Anja Bihlmaier fasste den Inhalt des Ballet noir in einer Einführung zusammen, was das Verständnis der bitterbösen Satire erleichterte: Zitate aus der Musikgeschichte werden in- und übereinandergebaut, lyrische Momente werden von lautstarken Dissonanzen abgelöst, Vertrautes und Neues lassen einen nicht verweilen in diesem radikalen Musikstück jenseits stilistischer Grenzen.
So werden die Ohren gehörig geöffnet für Dmitri Schostakowitschs 9. Symphonie von 1946, die statt des erwarteten monumentalen Triumphs für den Sieg über Nazi-Deutschland eine ambivalente Musik ist, hinter deren lichten und heiteren Stimmung sich Abgrenzung vom totalitären System verbirgt.
Magdalena Kožená singt die «Folk Songs», welche Luciano Berio einst für Cathy Berberian gesammelt und geschrieben hat. © Fabian Schellhorn
Mit Luciano Berios Sinfonia haben das Orchestra dell’Accademia Nazionale di Santa Cecilia und die acht Stimmen der London Voices eine Musik aufgeführt, die ebenso überwältigte: Eine Fülle von musikalischen literarischen und politischen Zitaten der 68er Zeit zuammen mit Material aus dem Scherzo von Mahlers 2. Symphonie, alles gleichwertige Bausteine eines Klanggebäudes, bündeln sich zum Bewusstseinsstrom, der unter die Haut geht. Nach Berios Folk Songs, gesungen von der Mezzosopranistin Magdalena Kožená, die mit ihrer wandelbaren Stimme jedes dieser Lieder aus der halben Welt zum Leben brachte, und nach dem Klanggemälde La Mer von Debussy, gab es für die übermütigen Musiker bei der Zugabe kein Halten mehr: Mit der Ouvertüre von La forza del destino rissen sie das Publikum von den Sitzen.
Isabella Faust, Violine und Ustina Dubitsky, Leitung, beim Violinkonzert von Beethoven. © Fabian Schellhorn
Hervorgehoben sei das Ensemble Les Siècles. In zwei Konzerten spannten die Musiker einen Bogen über 150 Jahre, der dank der Verwendung von je zeitgenössischen Instrumenten auch bekannter Musik einen unerwartet neuen Klang gaben. Absolut eindrücklich das Violinkonzert in D-Dur von Ludwig van Beethoven, uraufgeführt 1806, mit der überragenden Solistin Isabelle Faust, mit verändertem Instrumentarium gefolgt von der Symphonie fantastique (1830) von Hector Berlioz, einer revolutionären Musik, in der alte Traditionen von neuer Dramatik abgelöst wurden. Ustina Dubitsky, die ihre Laufbahn als Violinistin begonnen hatte, leitete das Orchester. Beim zweiten Teil mit Pierre Boulez‚ Mallarmé-Porträt Pli selon Pli (1957/89) übernahm Franck Ollu das Dirigat und Sarah Aristidou gab den Gedichten ihre glockenhelle Sopranstimme. Der selten vollständig aufgeführte Zyklus vom absolut Schönen und der Idee eines Nachlebens der Musik fand in dieser Interpretation einen vollendeten Ausdruck.
Raumklang mit acht Orchestergruppen: «Rituel» mit acht Orchestergruppen von Pierre Boulez im idealen Klangraum. © Stephan Rabold
Die Akustik der Philharmonie kann kein Orchester besser einsetzen als die Berliner Philharmoniker, so wurde Rituel in memoriam Bruno Maderna von Boulez mit seinen acht im Raum verteilten Orchestergruppen ein Raumklang-Fest für die Sinne. Mehr als Irritation erzeugte nach der Pause das Strawinsky-Ballett Le Sacre du printemps: In dieser heftigen Interpretation, dirigiert von François-Xavier Roth, wird vorstellbar, warum es bei der Uraufführung in Paris zum Skandal kam und es auch jetzt einigen Besuchern zu viel war. Eine ebenso unerwartet neues Stück wurde aus Johannes Brahms Symphonie Nr. 1 c-Moll. Bei diesem zweiten Konzert der Philharmoniker dirigierte deren Chef Kyrill Petrenko seine Crew von Solisten und Solistinnen, die auch in grosser Besetzung differenziert wie ein verschworenes Kammermusikensemble spielen.
Die 50 Sängerinnen und Sänger des Rias Kammerchors werden auch als weltbester Chor bezeichnet. © Fabian Schellhorn
Die menschliche Stimme war nicht nur in Berio- oder Boulez-Kompositionen zentral, mit dem A-Capella-Konzert des RIAS Kammerchors wurde an weitere Geburtstage erinnert: 500 wäre Palestrina 2025 geworden, und am Konzerttag, dem 11. September feierte Arvo Pärt seinen 90. Die Missa Papae Marcelli, 1555-67, hat der Chor unter der Leitung von Kaspars Putniņš mit Vokalmusik von Pärt verflochten und mit der heutigen Zeit verbunden. Beide sind grossartige Komponisten, beide Avantgarde in ihrer Zeit, doch die Kraft der alten Klangkunst überwiegt: Es war ein Gesang der in himmlische Sphären trägt, auch nicht Gläubige.
Das hr-Sinfonieorchester Frankfurt brachte Werke von Rebecca Saunders, Gustav Mahler und Helmut Lachenmann mit. © Fabian Schellhorn
Was bleibt von der Konzertreihe, bei der man im Publikum oft denselben Menschen, einem Fan-Club der Neuen Musik begegnete? Das Musikfests stand im Zeichen französischer Orchester und der runden Geburtstage von Pierre Boulez, Luciano Berio und Helmut Lachenmann, was einen umfassenden Eindruck ihres Schaffens vermittelt. Ebenso eindrücklich und vor kurzem noch kaum vorstellbar, die grosse Zahl an Dirigentinnen, genannt seien hier Anja Bihlmaier, Ustina Dubitsky oder Mirga Gražinytè-Tyla.
Stardirigent und Starorchester: Kyrill Petrenko dirigiert das Hausorchester der Philharmonie. Solist in Zimmermanns Oboenkonzert ist Albrecht Mayer © Monika Rittershaus
Grossorchestrale Werke der Neuen Musik von berühmten und auch jüngeren Komponisten und Komponistinnen zu hören, ist ein seltenes Erlebnis. Musik entsteht nicht im luftleeren Raum. Komponisten nehmen die Umstände ihres Daseins im Kleinen wie in der grossen Politik mit. So passt es, dass die Berliner den in Gent beschämend ausgeladenen Israeli Lahav Shani mit seinen Münchner Philharmonikern spontan zum Musikfest einluden, am Tag genau 90 Jahre nach der Einführung der Nürnberger Gesetze, die unter anderem Juden jeden Auftritt verboten.
Titelbild: Für die «Symphonie fantastique» von Hector Berlioz wurden vier Harfen vors Dirigentenpult gestellt.© Fabian Schellhorn
Programmhefte finden sie auf der Homepage der Musikfestspiele
Konzertaufnahmen gibt es in der Mediathek
im Sender Deutschlandfunk Kultur können viele Konzerte des Musikfests 30 Tage nach der Erstausstrahlung nachgehört werden.
Hier geht es zu Teil eins des Berichts vom Berliner Musikfest 2025





Die älteren dieser Werk der Neuen Musik kenne ich noch immer gut, und so wie Du hier darüber schreibst, liebe Eva, beginnen sie in mir beinahe zu klingen!