Spiegelungen

Vor 100 Jahren wurden erstmals Gemälde unter dem Titel «Die Neue Sachlichkeit» in Mannheim ausgestellt. Aus diesem Anlass präsentiert das Kunst Museum Winterthur die Ausstellung «Reflexionen aus dem beständigen Leben» mit figurativen Bildern von drei Kunstschaffenden aus der Schweiz: Niklaus Stoecklin, Liselotte Moser und Louisa Gagliardi.

Der Ausstellungstitel Reflexionen aus dem beständigen Leben bezieht sich auf den Titel einer Schrift von Theodor W. Adorno Reflexionen aus dem beschädigten Leben, die er im amerikanischen Exil vor dem Hintergrund des Zweiten Weltkriegs verfasst hatte. Mit den Bedingungen des Menschseins setzen sich auch die Kunstschaffenden dieser Ausstellung auseinander. Passend zum Titel fallen die zahlreichen Spiegelungen, eben Reflexionen, in den Darstellungen auf.

Niklaus Stoecklin, Spiegeleier, 1940, Öl auf Karton

Betrachtet man die Bilder und Zeichnungen, wirken sie auf Anhieb ganz der Idee der Neuen Sachlichkeit verpflichtet: präzise, sachbezogen, distanziert, kühl, nüchtern, realistisch, ohne Romantik. Und doch, vertieft man sich in einzelne Werke, lassen sie mitunter durchaus eigene Emotionen und Erinnerungen aus der Kindheit hochkommen und erzählen Geschichten. Wem läuft nicht das Wasser im Mund zusammen, wenn man die in der Bratpfanne brutzelnden Spiegeleier von Niklaus Stoecklin betrachtet.

Niklaus Stoecklin, Das Schuhholz, 1930. Foto: rv

Das Bild Das Schuhholz hat es mir angetan. Hier fällt die detailgetreue Darstellung, die äusserst präzise gemalten, parallel verlaufenden Linien der Holzmaserung auf. Den hervorstehenden beweglichen Griff dieses Schuhholzes spüre ich noch heute in den Händen. Als Kinder haben wir damit gespielt, denn im Gebrauch war unser Schuhholz längst nicht mehr. Ebenso überflüssig und surreal erscheinen die dargestellten drei daneben liegenden Würfelzucker auf dem Tisch. Stoecklins Malerei ist so realistisch, dass sie geradezu surreal wirkt, nicht zuletzt durch das Arrangement der Objekte. Auch vom Magischen Realismus ist die Rede etwa beim Bild Casa Rossa.

Niklaus Stoecklin, Selbstbildnis, 1918

Gedrängt wirken hingegen die oft übereck gemalten Darstellungen von Innenräumen wie Brünnlein im Atelier (1918) oder Selbstporträt im Bett (1919). Auch Stoecklins Selbstbildnis (1918) – der Maler sitzt eingeklemmt zwischen der Raumecke und der Staffelei – wirkt beengend. Der kritische Blick des Künstlers sieht jedes Detail: die Falten im blauen Arbeitskittel, der Knopf auf dem weissen Hemd, die kleine Schraube seitlich an der Staffelei, darüber die grosse Holzschraube, die fast bedrohlich aus der Staffelei hervorragt. Auch der Malstock zeigt: kein Fehler darf passieren. Der Maler ist streng mit sich selbst, schaut genau hin, sieht die Welt nüchtern und reduziert sie auf das Wesentliche.

Niklaus Stoecklin, Casa Rossa, 1917. Foto: rv

Niklaus Stoecklin (1896-1982) wuchs in Basel auf und nahm kurzzeitig bis zum Kriegsausbruch 1914 in München Kunstunterricht. Wieder in Basel besuchte er die Kunstgewerbeschule. Seine Aktivdienstzeit verbrachte er im Tessin, wo 1917 sein vielbeachtetes Gemälde Casa Rossa entstand, das ein Jahr später vom Winterthurer Unternehmer Georg Reinhart erworben wurde. Dank diesem Gemälde wurde er als einziger nicht-deutscher Vertreter 1925 in die Kunsthalle in Mannheim eingeladen, wo unter dem Namen Neue Sachlichkeit erstmals Bilder der Kunstströmung der 20er- und 30erJahre gezeigt wurden.

Liselotte Moser, Selbstporträt, 1930

Wendet man sich den Bildern von Liselotte Moser zu, wärmt sich die Atmosphäre spürbar auf. Hier arbeitet eine Frau, die mit zahlreichen Selbstporträts über sich selbst nachdenkt. Unter ihrem Bubikopf schaut sie uns mit offenen Augen nachdenklich an. Sie wirkt modern und könnte noch heute als Frau von nebenan erkannt werden. Wer war diese kaum bekannte Künstlerin?

Liselotte Moser (1906-1983) wuchs in Luzern auf. Mit fünf Jahren erkrankte sie an Kinderlähmung, war fortan auf einen Gehstock angewiesen und litt ihr ganzes Leben an Schmerzen. Dies hielt sie aber nicht davon ab, in Wien, Bern, Genf und sogar in Detroit Malerei zu studieren. Denn 1927 wanderte sie in die USA aus, wo ihre Mutter am Detroit Institut of Arts als Kuratorin der Textilabteilung tätig war. Sie verbrachte den grössten Teil ihres Lebens in den USA, wo sie sich, vom modernen Leben in Detroit geprägt, der Bildsprache des Amerikanischen Realismus anschloss.

Liselotte Moser, Ohne Titel, Palmer Avenue im Winter, 1936

Moser malte neben eigenen auch Porträts von Bekannten und nahm an zahlreichen Ausstellungen teil. Durch ihr Leiden war sie in der Motivwahl eingeschränkt. Dafür beobachtete sie ihre nächste Umgebung und komponierte in der Wohnung originelle Szenerien mit eigenen Möbeln und Utensilien. Mit dem Blick aus dem Fenster schuf sie, zu unterschiedlichen Jahreszeiten, bei Tag, bei Nacht, bei Regen, Schnee oder Sonnenschein, realistische Strassenbilder aus der Vogelperspektive. Was sie beobachtete, brachte sie mit kräftigen Farben klar abgegrenzt auf die Leinwand: Menschen unterwegs, schwarze geparkte Autos am Strassenrand, Bäume, gegenüberliegende Häuser, und immer wieder markante Schattenwürfe. Stets schwingt eine leise Sehnsucht nach Freiheit mit, oder ist es Melancholie?

Liselotte Moser, Teekanne, 1967. Die Spiegelung zeigt die Künstlerin vor dem Pilatus

1964 würdigte die Kunsthalle Detroit ihr Schaffen mit einer Retrospektive mit über 100 Gemälden, Stickereien und Grafiken. Nach dem Tod ihrer Mutter kehrte Liselotte Moser 1965 in die Schweiz, nach Stans, zurück. Hier arbeitete sie die letzten 18 Jahre fast unbeachtet weiter und vermachte der Gemeinde Stans rund 300 Werke. Diese befinden sich als Dauerleihgabe im Nidwaldner Museum in Stans. 2022 wurde Liselotte Moser die erste Schweizer Einzelausstellung in Stans gewidmet, Seniorweb hat darüber berichtet.

Louisa Gagliardi, Aphrodisiacs, 2025. Courtesy the artist and Galerie Eva Presenhuber, Zurich/Vienna

Das Oeuvre der beiden Kunstschaffenden aus dem letzten Jahrhundert wird durch den zeitgenössischen Beitrag der jungen in Zürich lebenden Walliserin Louisa Gagliardi (*1989) reflektiert und in die Gegenwart überführt. Gagliardi setzt sich intensiv mit gesellschaftlichen Fragen und Themen des alltäglichen Lebens auseinander. Ihre figurative Malerei entsteht in einem komplexen technologischen Arbeitsprozess, Skizzen werden digital und mit Photoshop bearbeitet, auf PVC gedruckt und im Finish mit Gel, Glitter oder Lack bemalt. Die Grenzen der Malerei werden erweitert, und dennoch steht die Künstlerin in der Tradition einer figurativen Malerei, die Felix Vallotton und die Neue Sachlichkeit vorbereitet haben.

Self-portrait, 2025. Courtesy the artist and Galerie Eva Presenhuber, Zurich/Vienna

Titelbild: Ausstellungsansicht, im Vordergrund Louisa Gagliardi, Flowers on Fire, 2023, Foto: rv   Fotos: Kunst Museum Winterthur und rv

Bis 8. Februar 2026
Reflexionen aus dem beständigen Leben. Niklaus Stoecklin, Liselotte Moser, Louisa Gagliardi, im Kunst Museum Winterthur / Reinhart am Stadtgarten
Katalog mit verschiedenen Essays, Hrsg. Andrea Lutz und David Schmidhauser, Verlag Scheidegger & Spiess, Zürich, 2025. CHF 39.00

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