StartseiteMagazinGesellschaftMissernten, Hunger und Not in der Schweiz

Missernten, Hunger und Not in der Schweiz

In ihrem neusten Roman «Das Jahr ohne Sonne» beschreibt die Berner Schriftstellerin Therese Bichsel Missernten, Hunger und die Not der Schweizer Landbevölkerung zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Was waren die Ursachen? In ihrem Zeitporträt kombiniert die Autorin Geschichte und Fiktion auf eindrückliche Weise.

1816 war ein Jahr der Klimaextreme: Es regnete in Strömen. Heftige Unwetter führten zu Erdrutschen und Überschwemmungen. Die Sonne hielt sich wochenlang bedeckt. Bis weit in den Juli hinein schneite es im Flachland. Ernten fielen aus, Vieh musste geschlachtet werden. Die Preise für Nahrungsmittel schnellten in die Höhe. In Teilen der Schweiz und Europas kam es zu Elend und Hunger. Die Sterblichkeit stieg rapide an.

Hungernde Familie. Foto ZVG

Therese Bichsel beschreibt in ihrem neusten Buch die grassierende Not der Landbevölkerung am Beispiel von drei starken Frauen:

– Die junge Appenzellerin Anna Kathrin Diem, geboren 1803, kämpft im Webkeller mit ihrer Mutter und den Geschwistern ums Überleben, während ihre Brüder auf dem Feld arbeiten. Der Vater ist im Januar 1816 am Nervenfieber gestorben.

– Die Berner Pfarrfrau Elisabeth Kuhn erlebt die Krise im Emmental. Zusammen mit ihrem Mann, Pfarrer Gottlieb Kuhn, versuchte sie so gut es geht, die Not anderer zu lindern. Eine betagte Nachbarin wird unterstützt, Bettler erhalten Essen oder eine vorübergehende Bleibe im Pfarrhaus.

– Die britische Schriftstellerin Mary Shelley (Foto), die 1816 mit ihrem Geliebten Percy Shelley und dem gemeinsamen Buben nach Genf gereist ist, erlebt das «Jahr ohne Sonne» am See, aber nicht in Not, sondern als Beobachterin. Sie schaut ihrem Geliebten zu, wenn dieser mit Lord Byron, einem bekannten englischen Dichter, im Regen segelt. Und sie bringt ihre Gedanken sowie Gefühle zu Papier.

Lord Byron thematisiert die dunkeln Tage im Gedicht «Finsternis»: «Mir war’ ein Traum, der völlig Traum nicht war. Erloschen war der Sonne Schein, die Sterne pfadlos und die eis’ge Erde, trieb blind und schwarz durch mondesleere Luft. Der Morgen kam und ging, doch ward’s nicht Tag.» Motiviert vom Schriftsteller und beeinflusst durch die Klimakrise beginnt Mary in Genf, ihren berühmten Roman «Frankenstein» zu schreiben.

Realität und Fiktion

Alle drei Frauen haben als reale Personen existiert. Therese Bichsel hat deren Lebensgeschichten in Archiven und Chroniken recherchiert, das familiäre Umfeld nachgezeichnet und durch liebevolle, fiktive Alltagsbeschreibungen ergänzt. Entstanden ist, wie aus ihren früheren Werken bekannt, eine spannende Mischung aus Historie und Fiktion, ein historischer Roman.

Von der ersten bis zur letzten Seite des Buchs wird die missliche Lage der Kleinbauern, Handwerker und Taglöhner spürbar. Weil es kein frisches Gras mehr gibt und das Heu nicht mehr ausreicht, mischen Anna Kathrins Brüder Stroh und Tannennadeln ins Futter. Im Webkeller ob Schwellbrunn (AR) wird gespult, gewoben und gezettelt. Die Witwe und ihre Kinder weben Handtücher sowie andere Textilien für die Herrschaften in der Stadt. Doch wegen eines Überangebots sinken die Preise, bis der Zwischenhändler die Annahme ganz verweigert.

Aufwühlende Gefühlswelten

Wert legt die Autorin auf eine breite Beschreibung der Gefühle. Da ist einerseits die Ohnmacht, welche die Erwachsenen angesichts der wirtschaftlichen Misere packt und zu Familienkrisen führt. Geschildert werden aber auch Zusammenhalt, Liebe und tiefe Gefühle, dank denen die gepeinigten Familien überleben. Trotz der Armut kommen an Weihnachten bescheidene Geschenke auf den Tisch. Kinderlachen und Neckereien zeugen von etwas Fröhlichkeit im harten Überlebenskampf. Einträge ins Poesiealbum stärken Freundschaften und beleben Ehen.

Bekanntlich spielte die Kirche vor 200 Jahren im Leben der Menschen eine grössere Rolle als heute. Pfarrer Gottlieb Kuhn spricht den Gläubigen im Dorf Rüderswil Mut zu und fordert sie auf, den Glauben an Gott nicht zu verlieren. Gebetet wird viel, nicht nur in der Kirche, sondern vor jedem Essen auch am Familientisch. Und die Autorin zeigt auf, wie der Pfarrer sowie seine Frau mit viel Hingabe die notleidenden «Schäfchen» unterstützen.

Auszüge aus zwei Chroniken dokumentieren die dramatische Wetterenwicklung im Jahr 1816. Auch diese Schilderungen sind nicht Fiktion, sondern bittere Realität. Autorin Therese Bichsel hat die Momentaufnahmen aus Archiven in die Gegenwart geholt.

Strafe Gottes für die Sünden der Welt?

Mehrfach stellen im Roman die Protagonistinnen und Protagonisten die Frage nach dem «Warum»? Sind die Dunkelheit, das nasskalte Wetter, die Missernten eine Strafe Gottes für die Sünden des Volkes? Liegt die Ursache für die Krise in einem Erdbeben, tief im Inneren des geschundenen Landes? Oder hat vielleicht ein «buggliges Mannli», eine Art Satan, den Anna Kathrin im Baum hocken sieht, mit dem Elend zu tun?

Das Rätsel bleibt im Roman ungelöst. Heute wissen wir, dass der 1815 in Indonesien ausgebrochene Vulkan Tambora das Klima rund um den Globus für zwei Jahre massiv verändert hat und die fehlende Sonne eine Folge der gigantischen Aschewolke war, welche die Welt damals überzog.

Auch heute leben wir in dramatischen Zeiten. Der von uns Menschen verursachte Klimawandel hat sich verschärft. Noch immer gibt es arme Leute, die in Not leben, wenngleich in der Schweiz niemand mehr Hunger leiden muss. Vielleicht sollten wir wieder mehr an unsere eigenen Stärken glauben und ab und zu was Positives ins Poesiealben schreiben, wie dies die Menschen im Krisenjahr 1816 getan haben.

Fragen an die Autorin:

Seniorweb: Was möchten Sie den Leserinnen und Lesern mit dem neusten Buch vermitteln?

Therese Bichsel: Ich möchte mit meinem Buch Einblick geben in diese wichtige Zeit vor über 200 Jahren – eine Zeit der Wetterextreme, der Not und des Hungers. Mich interessiert, was das für die Leute damals bedeutete, speziell für die Frauen, die generell weniger gut dokumentiert sind.

Weshalb war Ihnen das Thema „Klimakrise und Missernten im Jahr 1816“ ein grosses Anliegen?

Auch wir erleben Extremwetter, wissen aber vom Klimawandel, kennen die Gründe. Damals kannte niemand den Grund für die Verfinsterung und die Klimakrise. Die Parallelen und Unterschiede zu unserer Zeit sind interessant und fordern zu Vergleichen heraus.

Wie kamen Sie auf die spannende Figur der britischen Schriftstellerin Mary Shelley? Über Lord Byrons Zitat oder weil es sich bei Mary um eine starke, rebellische Frau handelt?

Mary Shelley begegnete mir bereits im Anglistikstudium: Sie interessierte mich als schreibende Frau und wegen ihres unkonventionellen Lebens. 1816 lebte sie unverheiratet mit Percy Shelley zusammen, die beiden hatten ein uneheliches Kind, sie begann zu schreiben. In ihrem Buch «Frankenstein» schafft der Wissenschaftler ein menschenähnliches Monster, das ihm entgleitet. Dieser Stoff kam mir erst durch die Beschäftigung mit jenem dunklen Sommer nahe.

Wie wählen Sie die Hauptfiguren Ihrer Romane überhaupt aus?

Es war schnell klar, dass Mary Shelley eine der Hauptfiguren sein wird. Ich suchte dann nach weniger bekannten Frauen jener Zeit aus verschiedenen Landesteilen, deren Leben zumindest teilweise dokumentiert ist, und fand das Appenzeller Bauernmädchen Anna Kathrin Diem und die Berner Pfarrfrau Elisabeth Kuhn.

Wie gelingt es Ihnen, mit den Alltagsbeschreibungen und fiktiven Gefühlswelten so viel Spannung zu erzeugen?

Ich denke, dass die Figuren anhand ihrer Alltagsprobleme und ihrer Gefühle – wie sie gewesen sein könnten – am besten spürbar werden. Schön, wenn diese Annäherungen Spannung erzeugen.

Klimawandel, Migration, Kinderarbeit, ungleiche Rechte von Mann und Frau… wählen Sie bewusst Themen aus, die auch heute noch aktuell sind?

Geschichte ist für mich interessant, wenn sie Bezug hat zur Gegenwart. Die genannten Themen beschäftigen uns auch im Hier und Jetzt. Es ist spannend, die Entwicklung dieser Themen über die Zeit zu verfolgen.

Bevor Sie mit dem Schreiben beginnen, tauchen Sie in Archive, alte Briefe und Chroniken ein. Wann schreiben Sie ein historisches Fachbuch?

Das wird nie geschehen. Es ist mir wichtig, mich mit den Fakten abzugeben. Aber ein reines Faktengerüst ist für mich zu dürr: Ich möchte, dass meine Figuren zu Leben kommen. Dafür ist das Nachspüren wichtig, ein gewisses Mass an Fiktion,

Das Jahr ohne Sonne, Therese Bichsel, Zytglogge Verlag 2025, ISBN: 978-3-7296-5204-0 Erscheinungsdatum 13.10.2025

Titelbild: Blick in einen Appenzeller Webkeller. Foto ZVG

 

 

LINKS

Homepage von Therese Bichsel

Homepage des Zytglogge Verlags

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Über die Autorin Therese Bichsel

Geboren 1956, aufgewachsen im Emmental. Studium der Germanistik und Anglistik in Bern. Familie mit zwei Söhnen. Arbeit als Redaktorin, Leiterin von Schreibworkshops. Seit 1997 sind von ihr bei Zytglogge zwölf Romane in mehreren Auflagen erschienen. Die Autorin lebt in Bern und Unterseen.

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Das Buch erscheint am 14. Oktober 2025.

Vernissagen finden statt am:

27. Oktober: 20 Uhr, in der Buchhandlung Stauffacher in Bern.

29. Oktober: 19.30 Uhr in der Bödeli-Bibliothek in Interlaken.

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Werke von Therese Bichsel, die von Seniorweb bereits besprochen wurden:

Anna Seilerin, die emanzipierte Wohltäterin im mittelalterlichen Bern

Von Menschen und einer berühmten Linde

 

 

 

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