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Lenzburger Frauenpower

Lenzburg ehrt mit der Ausstellung «Pionierinnen, Künstlerinnen, Denkerinnen» 200 Jahre Frauenpower im Museum Burghalde. Dreissig Lebensgeschichten zeigen, wie vielfältig Lenzburger Frauen mit Ideen und Engagement dem kulturellen und gesellschaftlichen Leben bis heute Impulse geben, weit über lokale Grenzen hinweg.

Im ländlich geprägten Lenzburg wurden ab dem 18. Jahrhundert industrielle Betriebe eingeführt, anfänglich im Bereich der Baumwoll- und der Tabakverarbeitung. Manche der im 19. Jahrhundert gegründeten Firmen kennt man bis heute, etwa die Mammut AG (1862), Wisa Gloria (1882) oder Hero (1886). Der neue Wohlstand förderte den Bau repräsentativer Bürgerhäuser und Villen und es entwickelte sich ein kunstaffines Bildungsbürgertum mit grosser Strahlkraft, das innovative Persönlichkeiten aus dem Ausland anzog: Richard Wagner, August Strindberg oder König Gustav IV.

«Museum Burghalde» am Fuss des Schlossbergs. Wikimedia Commons

Vom internationalen Flair profitierte auch das einheimische Kulturschaffen der Frauen: Sieben Schriftstellerinnen, neun Musikerinnen und fünf Malerinnen werden in der Ausstellung Pionierinnen, Künstlerinnen, Denkerinnen im Museum Burghalde vorgestellt. Zudem Frauen, die wichtige Positionen in der Gesellschaft einnahmen oder noch einnehmen.

Der Besuch von Carl Spitteler (1845-1924) im «Doktorhaus» bei Familie Haemmerli-Marti war Stadtgespräch und weckte die literarischen Geister in Lenzburg. Fanny Oschwald-Ringier (1840-1919) und ihre Nichte Martha Ringier (1874-1967) waren beide Schriftstellerinnen und wuchsen in der Burghalde (heute Museum Burghalde) am Fuss des Burghügels auf. Oben im Schloss Lenzburg wohnte die Familie Wedekind, wo die Geschwister Erika und Frank ihre Jugendzeit verbrachten.

Sophie Haemmerli-Marti (1868-1942), Mundartdichterin. Wikimedia Commons

Von den Schriftstellerinnen hat mich die Mundartdichterin Sophie Haemmerli-Marti (1868-1942) besonders berührt. Mis Chindli ist ein langes episches Gedicht über die Beziehung einer Mutter zu ihrem Kind. Es bringt die mütterlichen Gefühle von der Geburt bis zum ersten Schultag liebevoll und auf natürliche, poetische Weise zum Ausdruck. Und wer erinnert sich nicht an ihr Kinderlied: «Jo eusi zwöi Chätzli, sind tusigi Frätzli, händ schneewissi Tätzli und Chreueli dra…»

Sophie Marti besuchte mit ihrer Jugendfreundin Erika Wedekind das Lehrerinnenseminar in Aarau. 1890 heiratete sie den Lenzburger Arzt Max Haemmerli, mit dem sie vier Töchter grosszog. Nach dem Tod ihres Mannes durch einen Autounfall zog sie mit ihrer Tochter Margrit, die später Malerin wurde, nach Zürich. Viele ihrer Gedichte wurden vertont und fanden Eingang ins Volksgut.

Lenzburg brachte mehrere Musikerinnen hervor, die sich auch international einen Namen machten. Die Cellistin und Sängerin Anna Ludwika Kull (1841-1925) feierte ab dem zwölften Lebensjahr internationale Erfolge, gab aber aus gesundheitlichen Gründen mit 19 Jahren ihre Karriere auf. Sie gehört zur ersten Generation von Cellistinnen, die im öffentlichen Konzertleben des 19. Jahrhunderts präsent war.

Erika Wedekind, um 1900, Sängerin Schauspielerin und Musikpädagogin. Wikimedia Commons

Die Sängerin Erika Wedekind (1868-1944) kam als Vierjährige mit der Familie ins Schloss Lenzburg. In Aarau begann sie die Lehrerinnenausbildung, doch nachdem ihr musikalisches Talent entdeckt wurde, studierte sie Musik in Dresden. Ab 1895 trat sie als Sängerin auf und füllte «wie mit einem Zauberschlag» die vornehmsten Konzertsäle Deutschlands. 1898 heiratete sie ihren Lenzburger Jugendfreund Walther Oschwald, der als Jurist in den Dienst der Sächsischen Staatsbahnen in Dresden trat. Bis 1909 war Erika Wedekind an der Hofoper in Dresden als erste Koloratursopranistin engagiert. Sie brillierte weiterhin als Konzertsängerin unter den grössten Dirigenten ihrer Zeit. Ab 1914 betätigte sie sich zudem als Gesangspädagogin. 1930 zog das Paar nach Zürich, wo sie weiter unterrichtete.

Von den in der Schau dokumentierten Malerinnen erhält Clara Alwina Müller (1862-1929) die grösste Aufmerksamkeit. Ihre Bilder werden in einer zusätzlichen Ausstellung im Hauptgebäude des Museums Burghalde präsentiert. Clara Müllers Vater war der erste Direktor der Strafvollzugsanstalt Lenzburg. 1872 zog die Familie nach Bergamo, wo Clara 16-jährig das Kunststudium an der Accademia Carrara in Bergamo begann.

Clara Alwina Müller, Selbstporträt in München, 1905

Rasch wurde Clara Alwina Müller als gefragte Porträt- und Blumenmalerin bekannt. 1887 lebte sie in London und erhielt von der englischen Aristokratie prestigeträchtige Aufträge. Ihre Bilder stellte sie in Italien, Deutschland und in der Schweiz aus. 1903 zog sie nach München. Hier studierte sie die grossen Meister, verkehrte im Kreis um Franz von Stuck und wurde zunehmend vom Impressionismus beeinflusst. Ihr Selbstporträt von 1905 sorgte an der Ausstellung im Glaspalast für Aufsehen. Darauf kehrte sie nach Bergamo zurück. Nach ihrem Tod 1929 geriet sie und ihr Werk in Vergessenheit. Erst durch den Nachlass, der 2019 als Schenkung an die Stiftung Museum Burghalde kam, wurde sie wieder entdeckt.

Clara Alwina Müller, Weisse Blüten

Unter den Lenzburger «Denkerinnen» werden namhafte Persönlichkeiten vorgestellt:  Theologinnen, Philosophinnen, sozial engagierte Frauen wie die Gründerin der ersten heilpädagogischen Sonderschule im Kanton Aargau Lina Kunz-Reimann (1919-1996). Oder Gertrud Villiger-Keller (1843-1908), die ab 1887 dem Gemeinnützigen Frauenverein (SGF) als Zentralpräsidentin vorstand. Durch sie entwickelte sich der SGF zum einflussreichsten Frauendachverband der Schweiz.

Auch heute setzen sich Lenzburger Frauen für die Gesellschaft ein und machen sich als Politikerinnen und als Künstlerinnen einen Namen wie Maja Riniker (*1987) von der FDP, derzeit Nationalratspräsidentin oder Irène Kälin (*1987) von den Grünen. Simone A. Kromer (*1978) ist Techno Pionierin, Musikproduzentin und Unternehmerin und hat als DJ Lady Tom die Schweizer Musikszene beeinflusst und die Clubkultur aufgemischt. Interviews im Buch zur Ausstellung lassen sieben Zeitgenossinnen persönlich zu Wort kommen.

Ausstellungsansicht: Einladung für die Damen zum Gespräch bei Kaffee und Kuchen im Grandcafé

Die Sonderausstellung ist in der Dépendance «Seifi», der ehemaligen Savonnerie de Lenzbourg, zu sehen und wurde von Kurator Marc Philip Seidel mit seinem Museumsteam interaktiv gestaltet. Im Saal des Grandcafés, wo sich die Damen im 19. Jahrhundert vor einer romantischen, efeuumrankten Kulisse zum Kaffee treffen könnten, gibt es viel Platz auch für Kreative von heute. Kinder, aber auch Erwachsene können hier «ihr» Kunstwerk erschaffen.

Fotos: rv

Bis 1. Juni 2027
Pionierinnen, Künstlerinnen, Denkerinnen – 200 Jahre Lenzburger Frauenpower, Sonderausstellung in der Dépendance «Seifi», Museum Burghalde, Lenzburg.
Publikation: Dokumentation und Recherchen zur Ausstellung, Hrsg. Stiftung Museum Burghalde, Lenzburg 2025

Bis 30. August 2026
Die Malerin Clara A. Müller – Eine Spurensuche, Popup-Ausstellung im Museum Burghalde, Lenzburg
Publikation: Die Lenzburger Malerin Clara A. Müller (1862-1929). Eine kunsthistorische Annäherung. Hrsg. Stiftung Museum Burghalde, Lenzburg 2025

 

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