StartseiteMagazinKulturWilhelm Tell nicht für die Schule

Wilhelm Tell nicht für die Schule

Als radikale Saga inszeniert der Schweizer Stefan Bachmann «Wilhelm Tell» von Friedrich Schiller am Theater Basel.

Als sich nach dem ersten Akt ein etwas unsicherer Applaus erhob, da es in dieser Inszenierung von Stefan Bachmann keine Vorhänge gibt, murmelte mein Sitznachbar gönnerhaft und in bestem Hochdeutsch: «Na, na, seid mal still. Dem Schiller ist doch noch etwas mehr eingefallen. Das Stück ist noch nicht zu Ende.» Damit wurde auf einen Schlag die ganze Problematik des Stoffes vom Freiheitshelden Tell illustriert: Hie eine, wenn auch aufsehenerregende, Schweizer Inszenierung in einem Schweizer Theaterhaus – dort der sich als stolzer Vertreter deutscher Kultur fühlende Schiller-Kenner. Die Hochmut der fremden Vögte, auch wenn es zu Zeiten des Rütlischwurs die Habsburger waren – deren Stammschloss übrigens, was vielen nicht bewusst ist, in der Schweiz liegt. Aber zurück auf Anfang.

Fixierte Denkschemata

Wie ja inzwischen allgemein bekannt sein dürfte, ist die aus Dänemark und noch früher aus Persien stammende, in der Schweiz 1512 erstmals im «Urner Tellenspiel» aufgetauchte Figur des Tell eine Erfindung. Eine Erfindung jedoch, in der sich durch die Jahrhunderte Stolz und Freiheitswillen eines schliesslich erfolgreichen Volkes abbildete. Friedrich Schiller, von Goethe angeregt, stützte sich 1804 in diesem seinem letzten vollendeten Werk auf das «Chronicon Helveticon» von Aegidius Tschudi, das im 18. Jahrhundert in Druck erschienen war. Schillers Vereinfachung des Konfliktes – hie tyrannische Unterdrückung durch eine Staatsmacht, dort aufbegehrender Freiheitswillen einer kleinen Volksgruppe, hievte seine Version in den Olymp der klassischen Meisterwerke, auf die sich heute fast alle Welt bezieht. Das alte Schema Schwarz und Weiss, Gut und Böse lebt auch in den Köpfen von heute fort und richtet dort derzeit genügend Unheil an.

Ilario Raschèr, Bruno Cathomas, Justus Maier © Theater Basel / Simon Hallström

Um diese starre Fixierung zu brechen, schrieb Max Frisch 1971 seine ironisch-geistreiche Version «Wilhelm Tell für die Schule» und griff damit den zur Lehrmeinung mutierten Mythos an. Das war vor immerhin 46 Jahren. Wie aber kann man das Drama heute noch inszenieren (was ja immer auch deuten und positionieren heisst), ohne in vaterländische Töne zu verfallen? Der Zürcher Stefan Bachmann, erfolgreicher Regisseur, Ex-Schauspielchef am Theater Basel und derzeitiger Intendant des Schauspiels in Köln, zimmerte in dieser Koproduktion mit dem Schauspiel Köln eine überzeugende Version.

Radikalisierungsbeschleuniger Bühnenbild

Diese wird bereits im konsequenten Bühnenbild von Olaf Altmann manifest: Eine die ganze Bühne ausfüllende, gerade aufragende Art Kletterwand, in die als einzige Begegnungs- und Aufenthaltsräume enge Gänge in Form eines stilisierten Schweizerkreuzes geschlagen sind. Stefan Bachmann nennt das Bühnenbild «eine Art Radikalisierungsbeschleuniger». Wie wahr! Die Schauspieler leisten hier Unglaubliches: Ohne Sicherungen hoch oben kletternd und hängend oder nur in gebückter, niedergedrückter Haltung in den Gängen können sie agieren, «in einem veritablen Frondienst», wie Bachmann das selber nennt. Lediglich der Landvogt Herrmann Gessler und seine Entourage dürfen aufrecht am sicheren Bühnenboden stehen.

Wolfgang Pregler, Robert Dölle, Max Rothbart, Thiemo Strutzenberger, Simon Kirsch, Thomas Reisinger, Ilario Raschèr  ©  Theater Basel /Simon Hallström

Frappierender Rollentausch

Um jedoch die Ambivalenz zwischen Gut und Böse, zwischen Recht und Unrecht zu demonstrieren, greift Bachmann zu einem überraschenden Mittel: Er lässt den Darsteller des Tell (ein grandioser Bruno Cathomas) nach der Apfelschuss-Szene bis zum Schluss den Gessler spielen; er tauscht also die Rolle mit Thiemo Strutzenberger. Zuerst reibt man sich die Augen und vermeint, sich zu täuschen.

Bruno Cathomas, Thiemo Strutzenberger  © Theater Basel / Simon Hallström

Aber dann zusehend, mit welch kaum unterdrückter Aggression der Landvogt gegen den Tell vorgeht, begreift man den Kunstgriff – alles ist relativ! Relativ ist auch die Geschlechterzuteilung, denn in dieser Inszenierung werden alle Rollen nur mit Männern besetzt. Diese Anspielung auf das antike griechische Drama wird konsequent im Sprachduktus weitergeführt: Schillers Verse werden, unterstützt von dumpfen Taktschlägen im Hintergrund, in der Art eines antiken Chores vorgetragen. Auch das verlangt von den Schauspielern höchste Konzentration und – bei den Chorusstellen – enorme Disziplin. Die Probenarbeit muss höllisch gewesen sein.

Homogene Anstrengung

Das ganze Drama ist ja angefüllt mit inzwischen zu sprichwortartiger Bekanntheit mutierten Zitaten. Doch die Macher dieser Aufführung stehen offensichtlich nicht nur der «Milch der frommen Denkungsart» sehr skeptisch gegenüber, sondern widerlegen auch eindrücklich das Zitat, auf das sich viele Unterdrücker heute noch stützen: «Der Starke ist am mächtigsten allein.» Hier ist in einer homogenen Anstrengung aller Beteiligten ein mächtiges Kunstwerk entstanden, um das spätere Produktionen kaum herumkommen werden. Der frenetische Beifall des Publikums war ein deutlicher Indikator.

Nächste Vorstellungen: 5., 19., 23. und 28. März 2017

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