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«Wir kommen vielleicht alle von Pissarro»

Camille Pissarro; Cueillette de pommes; 1887-1888

Das Wort von Paul Cézanne weist auf die Bedeutung von Camille Pissarro (1830 – 1903) als zentrale Figur des Impressionismus. Die Landschaft, das Bauernleben hat er gemalt, unspekulative, scheinbar belanglose Motive, mit denen sich bei den grossbürgerlichen Kunstsammlern seiner Zeit nicht Furore machen liess. Nun zeigt das Kunstmuseum Basel den Maler und dessen Freundeskreis in rund 180 Exponaten.

Viele Jahre arbeitete Camille Pissarro mit der fahrbaren Staffelei auf dem Land nah bei seinen Motiven, im Alter, gebrechlicher und fasziniert vom vielfältige Leben in Städten und Seehäfen, vom Fenster des Ateliers, einem Hotelzimmer aus. Immer wieder der gleiche Ausblick, dieselben Bäume, Gärten und Häuser oder Boulevards kamen auf die Bilder, denn ihn interessierte weniger der zu malende Gegenstand, als das Licht, die Komposition, die Stimmung, kurz: die Malerei. Damit wird er zum Vorläufer oder auch Erfinder der modernen Malerei.

Le Champs de Choux. Pontoise, 1873. © Archivo fotografico Museo Thyssen

Die Ausstellung Camille Pissarro. Das Atelier der Moderne zeigt einen der wichtigsten Maler des 19. Jahrhunderts als Mitinitiant der Künstler-Gruppe, die später Impressionisten genannt wurde, und erfahrener Gesprächspartner von Malern wie Paul Cézanne oder Claude Monet, mit denen er eng befreundet blieb. Für viele Künstlerinnen und Künstler seiner Zeit wurde er zum Vorbild, zum Maître. So sagte Cézanne: «Der alte Pissarro war für mich wie ein Vater. Er war ein Mensch, den man um Rat fragen konnte, und so etwas wie der liebe Gott.»

Sie malten dasselbe Motiv und fanden zu unterschiedlichen Lösungen: Links: Paul Cézanne, La Côte Saint-Denis à Pontoise, 1877 (Privatsammlung, Photo: Debbie Davis/Loreda). Rechts: Camille Pissarro: Côte des Boeufs, Pontoise, 1877 © The National Gallery, London

Der 1830 in der Karibik geborene Sohn jüdischer Eltern, der statt auf eine weisse Eliteschule in die Grundschule mit schwarzen Kindern kam, ist mehrsprachiger Kosmopolit, gesellschaftspolitisch dem Anarchismus zugeneigt und in der Kunst ein Autodidakt, der sich unabhängig von der Akademie für seine künstlerische Vision engagierte. 1855 kommt er nach Paris, wo er im Umkreis der Schule von Barbizon arbeitet. Er verweigert den Eintritt ins Geschäft seines Vaters und lehnt auch eine Ausbildung an der Akademie ab. Und er heiratet 1861 gegen den Widerstand seiner Familie das Dienstmädchen Julie Vellay, hat in einer beständigen Ehe acht Kinder mit ihr.

Camille Pissarro um 1900. Archives Musée Camille Pissarro, Pontoise

In seiner Pleinairmalerei ist er beharrlich und bei den Motiven oder der zurückhaltenden Farbgebung ohne Kompromisse an das Grossbürgertum und somit den Kunsthandel. Die Selbstinszenierungen der besseren Gesellschaft zu malen, überlässt er anderen. Er malt die einfachen Dinge, die den Familienvater in seinen eher bescheidenen Wohnsituationen auf dem Land umgeben. Aber seine Malerei ist alles andere als einfach, er komponiert Struktur, Farben, Licht und Schatten ganz bewusst, auch wenn es scheinbar simple Bilder sind.

So bleibt ihm der finanzielle Erfolg lange versagt; Pissarro steckte immer wieder in Geldnöten. Erst kurz vor seinem Ende, als er die Pariser Boulevards mit ihrem pulsierenden Leben bei allen möglichen Tages- und Nachtzeiten oder die Geschäftigkeit der Seehäfen im Blick hat und malt, kann er von seiner Kunst, die endlich sehr geschätzt wird, leben. Mit der Familie ist er nun in Eragny in der Normandie zuhause, darf aber wegen eines Augenleidens nicht mehr draussen malen. Daher mietet er sich in Pariser und Seehäfen-Hotels mit guter Aussicht ein und malt mal vom einen, mal vom anderen Fenster aus – wie seit je jeder Ästhetisierung abgeneigt. Hier entstehen die faszinierenden spätimpressionistischen Serien.

Beispiel aus der Serienmalerei: Zweimal der Boulevard Montparnasse: im Frühling 1897 (Museum und Stiftung Langmatt, Baden) und bei Nacht um 1897 (© The National Gallery, London).

Die Basler Ausstellung zeigt nun der Biographie entlang in jedem Raum neu, dass Pissarro kein einsames Genie abseits der Szene war, sondern jemand, der im Austausch mit der Kunstszene arbeitete, der auch die Gabe hatte, stabile Freundschaften aufzubauen, auf seine Kollegen einzugehen, sie zu fördern und von ihnen zu lernen – immer mit dem Ziel gleichwertig zusammenzuarbeiten, immer offen für Experimente und kreative Lösungen für eine moderne Malerei, welche die akademischen Regeln überwindet. Ein Saaltext in Form einer gut dokumentierten Broschüre leitet durch die neun Räume. Der umfangreiche Katalog mit Aufsätzen unter anderem der beiden Kuratoren erschliesst im Einzelnen, welch zentrale Rolle Camille Pissarro bei der Entstehung einer Kunst der Moderne gespielt hat. Weil ein Kunstmuseum heutzutage breite Kreise ansprechen oder vielleicht auch anfixen will, bietet Basel zu Pissarro einen Raum voller Dokumente zu seiner politischen Welt. Hier darf man sich auch das Rüstzeug für Pissarro Sounds abholen. Versprochen wird ein «immersives Klangerlebnis».

Schneelandschaft in Louveciennes, 1872. © Museum Folkwang Essen.

Museumsdirektor Helfenstein, der die Ausstellung gemeinsam mit Christophe Duvivier, Direktor der Museen von Pontoise und Pissarro-Spezialist, kuratiert hat, weist auf Pissarros Farbauftrag bei einzelnen Schneebildern, die damals schockierten, weil der Gestus des Malers sichtbar bleibt und der Schnee gleichsam stumpf dargestellt ist. In den 1870er Jahren ist Pissarro auch Paul Gauguins Lehrmeister und gemeinsam mit Cézanne, Degas und Mary Cassatt entwickelt er die Grafik des Impressionismus.

In der Ausstellung vor dem Bild «Les Glaneuses» von 1889, das nun dem Kunstmuseum Basel geschenkt wurde (links), daneben «La Cueillette des Pommes», Eragny, 1887-88. (© The Dallas Museum of Art. Munger Fund). Foto: Julian Salinas

Immer auf der Suche nach dem Neuen wendet er sich dem Neoimpressionismus um Paul Signac, Georges Seurat und seinem Sohn Lucien zu, für Pissarro die konsequente Fortsetzung des Impressionismus. Er setzt Farbpunkte gemäss der Theorien des Pointillismus auf die Leinwände, bis er sich von den rigiden akademischen Regeln dieser Atelierkunst wieder abwendet, obwohl er auch hier meisterlich reussiert hat. Eines der Hauptwerke dieser intensiven Schaffensperiode, nämlich Les Glaneuses von 1889 ist dem Kunstmuseum pünktlich zur Ausstellung als Geschenk übereignet worden. Anders als früher interessieren ihn nun die Figuren in der Landschaft, hier ist es eine Gruppe von Ährenleserinnen, die sich in rötlichem Abendlicht im Vordergrund auf dem abgeernteten Kornfeld befinden.

Femme au fichu vert, 1893. Musée d Orsay, Paris. Foto: © RMN-Grand Palais – © Franck Raux

In dieser Schaffensperiode rückt er die Menschen – sehr oft sind es Frauen, Landarbeiterinnen, Bäuerinnen, Marktfahrerinnen – ins Zentrum. In seinen früheren Arbeiten kommen Personen selten vor, die Figuren dienen der Orientierung im Landschaftsmotiv. Es geht auch jetzt nicht um individuelle Porträts, es geht um das Typische der Menschen bei der Arbeit ums tägliche Brot. Sie sind weder verhärmt, noch nervös, noch überarbeitet, sondern gelassen, solidarisch und entspannt beim gemeinsamen Tun auf dem Feld.

Pissarros Menschen vom Land scheinen zufrieden zu sein mit ihrem Dasein, aufgehoben in ihrer ländlichen Existenz: In diesen Bildern steckt seine politische Grundhaltung des friedlichen Anarchismus, der absoluten Gleichwertigkeit in der Gesellschaft, hier wird der Traum von einer Welt ohne Befehlsgeber dargestellt. Pissarros Malerei ist geerdet, ohne auffällige oder gar spektakuläre Lichtreflexe, die seine Freunde gern setzen, dafür mit einer harmonischen Ausgewogenheit des Helldunkel.

Titelbild:Camille Pissarro: Die Apfelernte, Eragny 1887-88. Ausschnitt. © The Dallas Museum of Art. Munger Fund

Bis 23. Januar 2022
Informationen zur Pissarro-Ausstellung im Kunstmuseum Basel
Katalog: Camille Pissarro. Das Atelier der Moderne, hg. von Christophe Duvivier und Josef Helfenstein. Prestel, 2021.
Ein Video mit fast tausend Werken des Impressionisten Camille Pissarro:

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