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Wer wird wo geboren?

Als Kinder wussten wir, wer an Weihnachten geboren wurde: das Jesuskind in der Krippe zu Bethlehem. Aber spätestens seit dem vielzitierten Diktum von Angelus Silesius „Wird Christus tausendmal in Bethlehem geboren und nicht in dir – du bliebest noch ewiglich verloren“ ist nicht mehr so klar, was mit der weihnächtlichen Geburt gemeint sein könnte.

Mit Freude erinnere ich mich an das Adventsritual in meiner Herkunftsfamilie, als die Mutter vom ersten Adventssonntag an jeden Abend nach dem Znacht «den Adventskranz anzündete». Zunächst gab es nur ein Kerzenlicht in der dunklen Stube. Der Rosenkranz wurde gebetet und zum Schluss «Ihr Kinderlein kommet» gesungen. Wir Kinder versammelten uns um das Licht der ersten brennenden Kerze. Wer konnte welchen Schatten werfen mit seinen Fingern, Händen, Kopf und Körper? Wer wagte sogar, langsam mit einem Finger durch die Flamme zu streifen? Das Ausschütteln der Hände, wenn es zu heiss wurde. Die Ermahnungen der Mutter – und trotzdem mussten wir es noch einmal und noch einmal versuchen. Mit jedem Tag wurde das Gebetsritual monotoner, das Spiel mit den zunehmenden Flammen und den komplizierter werdenden Schattenwürfen aber anspruchsvoller. Endlich war Weihnachten – und da lag es – das Kindlein in der vom Vater gebastelten Krippe unter dem Christbaum.  Ewig lang dauerte das Singen aller Strophen von «O Tannenbaum», «O du Fröhliche» und «Stille Nacht», und dann endlich – durften wir die Geschenke auspacken.

Schulkinder im Mattschulhaus Wil mit Eltern und Lehrpersonen am «Chranzen»

Das Adventskranzritual einzuhalten ist schwieriger geworden. Zwar werden in Schulen oder Kirchgemeinden immer noch wacker Adventskränze gebastelt oder man kauft sich einen, wenn’s nicht anders geht. Aber das tägliche Rosenkranzbeten ist selten geworden… und wer holt den Sohn vom Hockeytraining, wer die Tochter vom Judo oder Ballet ab? An welchen Abenden wird das Znacht noch gemeinsam eingenommen?

Die Weihnachtsserie des Seniorwebs zum Thema «Rituale» hat mir den Impuls gegeben, nach einem neuen Adventsritual Ausschau zu halten. Vielleicht werde ich ab dem ersten Adventssonntag bis zum 23. Dezember täglich eine Kerze brennen lassen wie in meiner Kindheit, allerdings erst zwischen der 21. und 22. Stunde des Tages. Vielleicht werde ich dann aus «Bachipedia» die eine oder andere Bachkantate hören und darüber nachsinnen. Favoriten sind im Moment die Kantate BWV 151 «Süsser Trost, mein Jesus kömmt», mit einer Reflexion dazu von Hanns-Josef Ortheil und die Kantate BWV 025 «Es ist nichts Gesundes an meinem Leibe» mit einer Reflexion des hervorragenden Gerontologen und Bach-Interpreten Andreas Kruse.

 Weihnachtsoratorium BWV 248 vom 15.12.2017, Kirche Trogen

Kann die Kantate «Süsser Trost, mein Jesus kömmt» die Frage nach der Geburt des historischen Jesus und der «Gottesgeburt in der Seele», wie sie Angelus Silesius fordert, zu klären helfen? Was trägt die erste Sopranarie zur Lösung der Frage «Wer wird wo geboren» bei: «Süsser Trost, mein Jesus kömmt, /Jesus wird anitzt geboren! /Herz und Seele freuet sich, /denn mein liebster Gott hat mich /nun zum Himmel auserkoren.

Corona-bedingte Verschiebung einer Aufführung in die Olma-Halle St. Gallen (2021)

In der Kantate «Es ist nichts Gesundes an meinem Leibe» beginnt das Rezitativ des Tenors mit dem Satz «Die ganze Welt ist nur ein Hospital». Beim Weiterlesen und Hören wird klar, weswegen die Welt zu einem Krankenhaus geworden ist. Den einen quält «ein hitziges Fieber böser Lust; der andere lieget krank an eigner Ehre hässlichem Gestank; den dritten zehrt die Geldsucht ab und stürzt ihn vor der Zeit ins Grab.» Hedonismus, Ehrsucht oder Geldgier konnte im Barock die «Welt» in ein «Hospital» verwandeln, heute in Zeiten der Pandemie und des Klimawandels ins individuelle Burnout und in die Überhitzung unseres Planeten.

Andreas Kruse fragt in seinen Reflexionen zu dieser Bachkantate: «Was brauchen schwerkranke Menschen?» Dabei verweist er auf Maimonides (1134-1204), der «zwischen (I) der Prävention von Erkrankungen, (II) der Behandlung von akut erkrankten Menschen und (III) der Behandlung und Pflege von chronisch erkrankten Menschen differenziert hat.» Vor allem bei der Betreuung und Pflege von chronisch kranken Menschen und eines chronisch krank gewordenen Planeten stellen sich beispielsweise folgende Fragen:

  • Wie können Leidende eingebunden werden in eine sorgende Gemeinschaft als Alternative zu Ehrsucht, Egoismus und Nationalismus?
  • Wie können nachhaltige Sinnperspektiven Hedonismus, kruden Konsumismus und Geldgier ersetzen?
  • Wie kann chronisches Leiden individuell und auf dem ganzen Planeten mithilfe emotionaler und geistiger Ressourcen transformiert und geheilt werden?

Die Adventszeit eröffnet die Möglichkeit, passende Rituale der Besinnung einzuüben, mit und ohne Bachs Kantaten.

Übrigens: Die J.S. Bachstiftung ermöglicht seit 2006 monatlich Kantatenkonzerte und könnte mit diesem Rhythmus bis 2027 das ganze Vokalwerk von Bach zur Aufführung gebracht haben.  Bachipedia wurde von der J.S. Bach-Stiftung ins Leben gerufen, damit Interessierte kostenlosen Zugang haben zu Aufführungen, Werkeinführungen und Reflexionen der Bachkantaten. Weitere Infos unter https://www.bachstiftung.ch und https://www.bachipedia.org.

Weiterführende Literatur: Andreas Kruse: Lebensphase hohes Alter. Verletzlichkeit und Reife. Heidelberg 2017, ISBN 978-3-662-50414-7; Resilienz bis ins hohe Alter – was wir von Johann Sebastian Bach lernen können. Wiesbaden 2015, ISBN 978-3-658-08333-5

Fotos: Titelbild aus pixabay; Foto (Maria Wagner): «Chranzen» im Mattschulhaus Wil; Foto (H.P. Schiess): Aufführung des  Weihnachtsoratorium BWV 248 «Jauchzet, frohlocket» in der Kirche Trogen, 15. Dez. 2017; Foto (Jelena Gernert 2021): Corona-bedingte Verschiebung einer Aufführung in die Olma-Halle St. Gallen.

Hier können Sie die bis jetzt erschienenen Beiträge der Weihnachtsserie 2021 «Rituale» nachlesen:
Bernadette Reichlin: Blütenzauber jenseits aller Modetrends

Peter Schibli: Die Magie des Lichts
Peter Steiger: Vom Pöstler, vom Geld und von Lys Assia
Linus Baur: Rituale sind so wichtig

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