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Schriften der Menschheit

Silvia Ferrara erzählt in ihrem Buch «Die grosse Erfindung – Eine Geschichte der Welt in neun geheimnisvollen Schriften» von der Entstehung früher Schriftkulturen und stellt bislang nicht entschlüsselte Schriften vor.

Bis vor vierzig Jahren war man überzeugt, dass die Schrift in der gesamten Menschheitsgeschichte nur ein einziges Mal erfunden worden war. Inzwischen gilt als gesichert, dass Schriften mindestens viermal unabhängig voneinander entstanden sind: in Ägypten, Mesopotamien, China und in Mexiko (die Maya-Schrift); doch es könnten noch mehr sein, wie Silvia Ferrara in ihrem Buch feststellt. Sie ist Professorin für Ägäische Kulturen an der Universität Bologna und untersucht die frühesten Phasen der Entstehung von Schriftkulturen in Verbindung mit Archäologie, Anthropologie und Neurowissenschaft.

Handabdrücke in der Cueva de las Manos in der argentinischen Provinz Santa Cruz, um 7000 v. Chr. oder älter. Foto: Mariano, Wikimedia Commons.

Die Schrift tauchte erst auf, als der Mensch bereits seit Jahrtausenden Gespräche führte. Mündliche Sprache ist flexibel und ohne Struktur, ein Gegenüber reagiert unmittelbar auf das Gesagte. Das Schriftliche hingegen ist beständig und strukturiert, der Lesende kann sich mit dem Schreibenden nicht direkt austauschen. Schriften entwickelten sich im sozialen Austausch schrittweise und wurden nicht auf einen Schlag erfunden. Um sie zu verstehen, war eine physiologische Anpassung im menschlichen Gehirn notwendig, die Neuronen mussten sich, wie die Autorin darlegt, auf einen neuen Prozess der Wahrnehmung einstellen,

Beispiele für ikonische Zeichen in den frühesten Schriften: (von links nach rechts) ägyptische Hieroglyphe, archaische Keilschrift, Nahuatl, kretische Hieroglyphe, Maya und anatolische Hierglyphen.

Vorformen von Schriften entwickelten sich, seit Menschen Materialien nutzen konnten, um damit zu malen, gravieren, ritzen oder stempeln. Erste Schriftformen entstanden aus der Naturbeobachtung, Umrisse und Linien bildeten stilisierte Zeichen. Vor 5000 bis 6000 Jahren, als die Menschen sesshaft wurden, entwickelten sich erste Schriftsysteme. Durch grösseren Besitz und Handel entstanden soziale Hierarchien mit einer Elite, die das Staatswesen kontrollierte und strukturierte. Dabei erleichterte die Schrift das Regieren. Dennoch funktionierten viele Kulturen auch ohne Schrift. Mündliche Überlieferungen in den Clans spielten hier eine bedeutende Rolle, wie beispielsweise in Afrika, wo die Griots an die Herkunft und die Werte der eigenen Kultur erinnern.

Kypro-minoische Tontafeln, Zypern, zwischen 1230-1050 v.Chr. 

Silvia Ferrara beginnt ihr Buch mit Schriften, die isoliert auf Inseln entstanden und bis heute nicht entziffert sind, wie etwa die allerersten europäischen auf Kreta und Zypern. Zypern war vor 3500 Jahren eine wichtige politische und wirtschaftliche Macht im östlichen Mittelmeerraum. Der Kupferreichtum gab der Insel ihren Namen (lat. Cuprum / griech. Kypros). Zypern kannte eine eigene Schrift, die Kypro-minoische Schrift. Diese ist lediglich mit knapp dreissig Inschriften erhalten: auf Silber- und Bronzegeschirr, Goldschmuck und Täfelchen aus Elfenbein oder Ton. Wenngleich diese Schrift noch nicht entziffert ist, sind sich die Forscher einig, dass sie nicht für Verwaltungs- oder Handelszwecke genutzt wurde. Vielmehr weisen die langen Texte darauf hin, dass es sich hier um Erzählungen für eine Elite handelt.

Rongorongo Schrift, Vergrösserung aus dem sogenannten Santiagostab. Foto: Wikimedia Commons.

Besonders faszinierend ist das Kapitel über die Rongorongo Schrift (dt. Gesang, Rezitation, Vortrag) auf der Osterinsel. Sie ist ohne äussere Einflüsse entstanden und mit keiner anderen Schriftart der Erde vergleichbar. Bis heute kann sie nicht entziffert werden. Die Osterinsel wird um 1100 n. Chr. besiedelt. Der Mythos erzählt, dass der erste König Hotu Matua von den Polynesischen Inseln her mit ein paar Männern und Frauen auf Katamaranen und Kanus sowie mit 67 eng mit Zeichen beschrifteten Tafeln auf der unbewohnten Osterinsel angekommen sei. Die Siedler legen Kultstätten mit monumentalen Steinstatuen zur Verehrung ihrer Ahnen an. Gegen 1750 verlassen die Menschen die Insel, vermutlich ist sie wegen Raubbaus unbewohnbar geworden. Dabei haben sie ihre Kultplätze zerstört und die Steinstatuen umgeworfen.

Die Rongorongo Schrift ist vorwiegend auf Holztafeln erhalten. Die insgesamt nur 25 als authentisch geltenden Schriftzeugnisse befinden sich verteilt in verschiedenen Museen der Welt, keines auf der Osterinsel. Die meist beidseitig beschriebenen Tafeln zeigen in Reihen angeordnete Zeichen; teilweise sind Vorbilder aus der Natur erkennbar, teilweise sind sie abstrahiert. Die für uns ungewohnte Lesart beginnt mit der untersten Zeile von links nach rechts, für jede nächsthöhere Zeile wird die Tafel um 180 Grad gedreht. Auf der Rückseite setzt sich der Text ohne Unterbrechung fort.

Anhand einer Rongorongo Tafel erklärt Silvia Ferrara, wie eine Schrift wissenschaftlich untersucht wird. Der Scanner erstellt ein 3D-Modell, das sich virtuell wie in einem Videospiel auf dem Bildschirm um die eigene Achse drehen lässt. Mit diesem Modell können die Formen der Zeichen klar auseinandergehalten werden, jedes kleinste Detail wird sichtbar. Dies ermöglicht, die Abfolge der Zeichen zu erkennen und ein Muster für eine Grammatik zu rekonstruieren. Auch wenn die Rongorongo Schrift noch nicht entziffert ist, gibt die Untersuchung einen Schlüssel zur Lesbarkeit. Zumindest weiss man, dass es sich hier um Schriftzeichen handelt, die als Gedächtnisstütze für den Rezitator einen ganzen Begriff darstellen.

Tafel mit piktographischen Keilschriftzeichen, um 2800 v. Chr. Die Proto-Phase der Keilschrift basiert vermutlich auf dem Sumerischen, der ältesten mesopotamischen Sprache. 

Silvia Ferrara berichtet von weiteren frühen Schriften aus der ganzen Welt und geht zum Schluss auf die Entwicklung unseres Alphabets ein, bis hin zur modernsten Form des Piktogramms, den Emojis, die Ende der 1990er Jahre entstanden. Die Vielfalt und der Reichtum früher Schriften bergen grosse Geheimnisse, den Schriftenforschern geht die Arbeit noch lange nicht aus, und wir staunen.

Bilder: Die Illustrationen sind dem Buch entnommen sowie Wikimedia Commons.

Silvia Ferrara, Die grosse Erfindung. Eine Geschichte der Welt in neun geheimnisvollen Schriften. Aus dem Italienischen von Enrico Heinemann, C.H. Beck Verlag, München 2021. ISBN 978-3-406-77540-6

Vgl. auch: Ruth Vuilleumier, Sprachen der Menschheit

 

 

 

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