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Sie machen die Schweiz sauber

Unterwegs gegen den Dreck: Frauen und Männer sorgen mit Besen und Eimer, mit Staubsauger und Laubbläser, Sprühreiniger und Mop für saubere Strassen und Plätze, Wohnungen und Büros. Jetzt bekommen sie eine Stimme.

Tezcan K. aus Kurdistan, Embaba aus Eritrea, Nura aus Bosnien machen hierzulande sauber und erzählen von ihrem Leben im Buch Wer putzt die Schweiz? Migrationsgeschichten mit Stolz und Sprühwischer von Marianne Pletscher und Marc Bachmann (Fotos).

Tezcan sagt: «Meine Mission ist es, die Welt sauber zu halten.» Er reinigt Basels Strassen im Bachlettenquartier seit einem Vierteljahrhundert. Geboren ist er in Kurdistan, aufgewachsen in Istanbul bei den Grosseltern, bis die Eltern ihn in die Schweiz holen konnten. Der Gymnasiast musste mitverdienen.

Embaba N. reinigt Privathaushalte und kann heute mit Mann und Kindern in der Schweiz leben.

Embaba N. ist einige Jahre nach ihrem Mann Michael G. aus Eritrea in die Schweiz geflüchtet. Er arbeitet als Sakristan der Guthirt-Kirchgemeinde, ihr Status ist nicht gesichert; ihre Flucht nachzuerzählen tut ihr und uns weh, mit ihrer Arbeit bei der Agentur Valeriana ist sie zufrieden. Valeriana ist eher ein soziales Projekt als eine Vermittlungsfirma.

Nura B., die bei einer Agentur zufriedenstellende Arbeitsbedingungen hat, kennt viele Landsleute, die illegal arbeiten müssen und ausgebeutet werden. 

Nura B. stammt aus der Nähe von Srebrenica, der Stadt, in der rund 8000 muslimische Bosniaken, von Ratko Mladićs Armee der Republica Srbska, der Polizei und serbischen Paramilitärs ermordet wurden. 2009, längst in die Schweiz mirgriert, erfuhr sie, dass Überreste ihres Vaters identifiziert worden sind, noch später fand man Knochen ihrer Brüder. Die Bestattung in Gräber mit Namen sind von grosser Bedeutung für die Trauerarbeit.

Nuras junge Arbeitgeberinnen haben erstmals wegen der Arbeit zum Buch Wer putzt die Schweiz? von dem Völkermord in Srebrenica erfahren, denn Autorin Marianne Pletscher und Fotograf Marc Bachmann haben Nura und all die anderen Frauen und Männer, die ihr Auskommen dank Putzarbeit haben, jeweils auch am Arbeitsplatz befragt und fotografiert.

Rosa P. aus Kampanien ist zwar Rentnerin, aber bei Autorin Marianne Pletscher macht sie immer noch gern die Wohnung sauber, weil sich hier zwei Frauen auf Augenhöhe begegnen.

Neun Porträts von Menschen, die einst in die Schweiz kamen – auf Arbeitssuche, durch Familiennachzug, auf der Flucht – hat Marianne Pletscher geschrieben, inspiriert möglicherweise durch Rosa aus Süditalien, die seit Jahren ihre Wohnung putzt, mit Glück einer Goldküstenfamilie entronnen, welche sie zwar gut bezahlte, aber als minderwertige Person demütigte, was – wie Rosa von Kolleginnen erfuhr – normal sei.

Zwar muss man nicht fliessend deutsch können, wenn man als Putzhilfe anfängt. Aber es ist gut zu wissen, wie die Werkzeuge heissen. 

Eine ehemalige Putzfrau hat das zehnte Porträt gleich selbst geschrieben: Die mit Literaturpreisen ausgezeichnete Dragica Rajčić Holzner wusste schon als siebenjährige, dass sie Dichterin werden wollte. Sie kam mit 20 als Ehefrau eines jugoslawischen Fussballers in einem Drittligaclub in die Schweiz und musste mitarbeiten, zunächst eben putzen. 1988 ging sie zurück nach Kroatien, aber schon 1991 musste sie mit ihren drei Kindern wieder fliehen. In ihrem Essay Besseres Leben denkt die Autorin über ihr und anderer Leben nach und reflektiert über die richtige Sprache nach für das, was sie beschreiben will.

Dass viele Migranten, die in unser Land kommen, unter ihrer Qualifikation ihren Lebensunterhalt bestreiten müssen, wissen wir nicht erst seit Ingenieure aus Syrien oder Informatikspezialistinnen aus der Ukraine bei uns Zuflucht suchen. Flucht und Neustart sind mit dem sozialen Abstieg verbunden, viele arbeiten ohne gültige Papiere in ständiger Angst entdeckt und ausgewiesen zu werden. In der Stadt Zürich können die Sans-Papiers zwar nicht legalisiert werden, aber mit der Züri City-Card sollen sie eine Art Ausweis erhalten, welcher die Teilhabe am städtischen Leben erleichtern soll. Über das Referendum gegen den Beschluss der Stadtbehörden muss noch abgestimmt werden.

Yoharaja A. meditiert jeden Tag. 

Der hochgebildete Privatschuldirektor und politische Aktivist Yoharaja A. kam 1982 mit der ersten tamilischen Flüchtlingsgruppe in die Schweiz. Auch ihm blieb eine lange, demütigende Karriere nicht erspart, aber beim Putzen von Restaurants zusammen mit seiner Frau konnte er Geschichten und Theaterstücke ausdenken, die er niederschrieb. Seine glücklichste Zeit, erinnert er sich. 2021 ist er bei den Solothurner Literaturtagen in der Gruppe der Autoren aus der Schweiz, die in ihrer Muttersprache schreiben, aufgetreten.

Die Somalierin Fartun H.D. im Reinigungskurs des Schweizerischen Arbeiterhilfswerks.

Jahrzehntealt ist das Buch von Alexander J. Seiler Siamo Italiani – Die Italiener mit dem berühmten Frisch-Zitat im Vorwort: «Man hat Arbeitskräfte gerufen, und es kommen Menschen.» 1965 war es, aber gültig ist der Spruch wohl noch lange, wie Pletschers und Baumanns Porträts dokumentieren.

Das Buch enthält auch Statistisches: Mehr als 200’000 Männer und Frauen verdienen ihren Lebensunterhalt mit Putzen. 70’000 sind dem Gesamtarbeitsvertrag der Reinigungsbranche unterstellt.

Eine Einführung zu der Porträtsammlung von der Autorin selbst und ein Vorwort von Marc Spescha, Anwalt mit viel Erfahrung in Sachen Aufenthaltsbewilligungen und Sans-Papiers leiten die Porträtsammlung ein, ein umfassender Text über Löhne und Kosten, Verträge, Bewilligungen und Migration gibt Hintergrundinformation. Literaturhinweise und das Kapitel «Drei faire Projekte: Wo Putzen Freude macht», sowie ein Glossar ergänzen den reich bebilderten Band, dem Leserinnen und Leser gewünscht sind, die eine Reinigungskraft beschäftigen, ohne den Menschen, der sie oder er ist, wirklich kennengelernt zu haben.

Titelbild:Tezcan K. mit seinem Team im Basler Bachlettenquartier
Sämtliche Fotos: © Marc Bachmann und Limmat-Verlag

Marianne Pletscher, Marc Bachmann: Wer putzt die Schweiz? Migrationsgeschichten mit Stolz und Sprühwischer. gebunden, 256 Seiten, 131 Fotografien. Limmat-Verlag Zürich, 2022. ISBN 978-3-03926-035-5

Mit dem gleichen Titel wie das Buch hat Radiofrau Irene Grüter 2021 ein Feature realisiert, das mit diesem Link gehört werden kann.

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