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Gegen Anpassung und Gleichgültigkeit

«Biedermann und die Brandstifter» gehört zu den bekanntesten Lesestücken an hiesigen Schulen. Das Theater Effingerstrasse in Bern zeigt den Klassiker von Max Frisch in einer beeindruckend aktuellen Version.

Der Haarwasser-Fabrikant Gottlieb Biedermann (gespielt von Mario Gremlich) und seine Frau Babette (Lilian Fritz) wissen aus der Zeitung, dass in der Stadt Hausierer auf Dachböden übernachten und regelmässig Häuser in Brand setzen. Als der obdachlose Ex-Ringer Josef Schmitz (Berth Wesselmann) um ein Nachtlager bittet, ist sich das Ehepaar der Gefahren sehr wohl bewusst. Aus naivem Anstand und Furcht vor Gesichtsverlust – Biedermann sieht sich gerne als Menschenfreund – lassen die beiden den Gast gewähren. Doch ein Menschenfreund ist der Unternehmer nicht wirklich: Während er den Fremden verwöhnt, entlässt er einen treuen Mitarbeiter ohne wirklichen Grund.

Biedermann gibt sich naiv-locker und zündet eine Zigarre an.

Als sich zusätzlich zu Schmitz auch noch der Kellner und ehemalige Häftling Eisenring (Aaron Frederik Defant) auf dem Dachboden breit macht, dort Benzinfässer lagert und Zündschnüre spannt, versucht sich das Ehepaar mit einem gemeinsamen Freundschaftsessen zu beruhigen. Entgegen der Skepsis des Dienstmädchens Anna (Anna Rebecca Sehls) hält Biedermann krampfhaft an der Überzeugung fest, die beiden Männer seien keine Brandstifter, sondern Freunde. Als Beweis für sein Vertrauen übergibt er ihnen sogar Streichhölzer. In der Nacht geht dann das Haus in Flammen auf.

Blinde Gutmenschlichkeit

Zwischen überdimensionierten Streichholzschachteln und Zündschnüren (Bühnenbild Röné Hoffmann) lernt Biedermann nichts aus seinen Beobachtungen, sondern verdrängt stattdessen aus Liebenswürdigkeit und Trägheit rationales Handeln. Mit offenen Augen geht das Ehepaar in die Katastrophe, obwohl alle Anzeichen auf Brandstifter hindeuten. Max Frisch stellte in dem Stück die Frage, wann und zu welchem Zweck blinde Gutmenschlichkeit zum tödlichen Supergau führt.

Mit poetischen Einlagen mahnt der Chor der Feuerwehrleute immer wieder zur Vorsicht.

Die Geschichte von Biedermann steht für die unheilvolle Fähigkeit des Menschen, eine erkennbar drohende Gefahr auszublenden und dem Untergang in naiver Verdrängung entgegen zu gehen. Als leuchtendes Beispiel für bequeme Anpassung ist die Figur von Frisch-Kennerinnen und -Kennern vielfältig interpretiert worden: Einige begreifen die Parabel als Erklärungsversuch für den Aufstieg der Nationalsozialisten in Deutschland in den dreissiger Jahren, andere als Warnung vor dem Nachkriegs-Kommunismus, der im Einmarsch der russischen Armee in die Tschechoslowakei gipfelte.

Frischs Biedermann-Drama beruht, wie viele seiner Werke, auf einem bereits im Tagebuch 1946 – 1949 niedergelegten ersten Entwurf. Im Auftrag des Bayerischen Rundfunks hatte  der Schriftsteller 1952 eine Hörspielfassung konzipiert, die 1953 erstmals gesendet wurde. Als er vom Züricher Schauspielhaus 1957 zu einem neuen Stück aufgefordert wurde, arbeitete er das Hörspiel fürs Theater um. Noch heute gehört das Stück an Schulen zum bevorzugten Lesestoff, was der Besuch von ganzen Schulklassen im Theater Effinger bestätigt.

Unterschied zu Brechts Theaterverständnis

Der Untertitel «Lehrstück ohne Lehre» verweist auf Bertolt Brechts episches Theater. Überhaupt zeigen der Einsatz des aus der antiken Tragödie entlehnten Chors (Ursula Eberle, Anna Rebecca Sehls, Werner Wenger) sowie verschiedene Kommentierungsoptionen die für das moderne Theater der 1950er und 1960er Jahre typische Absicht, die Zuschauenden zu kritischen Stellungnahmen zu provozieren. Allerdings distanziert sich Frisch mit «Lehrstück ohne Lehre» von der Brechtschen Überzeugung, ein Theaterstück könne gesellschaftliche Veränderungen bewirken.

Dinner mit oder ohne Kerzenleuchter? Biedermanns Anpassungsfähigkeit wird sogar bei der Tischdekoration deutlich.

Anknüpfungspunkte gibt es viele: Zuerst waren es die Faschisten, dann die Kommunisten, die von der gängigen Nichteinmischungshaltung des Westens profitierten. Dann wurden imperialistische Invasionen, Menschenrechtsverletzungen und Bürgerkriege von den Mächtigen toleriert. Geistige Brandstifter gibt es auch im 21. Jahrhundert noch: Trump, Putin, Orban, Meloni, Köppel und so weiter. Sie profitieren davon, dass ihnen viel zu selten widersprochen wird. Stattdessen wird mit Humor, Sentimentalität oder Gleichgültigkeit auf das Böse reagiert. Zu oft wird die Wahrheit nicht klar beim Namen genannt.

Auf der anderen Seite steht die selbstzufriedene Masse der Individualisten: Menschen, die sich aus dem öffentlichen und politischen Leben zurückgezogen haben, denen der Wohlstand vermeintliche Freiheiten bringt, wo der richtige Turnschuh, das tollste Auto, das neueste Handy für den wöchentlichen Höhepunkt sorgen. Die Welt ist durch die Globalisierung und die Digitalisierung derart kompliziert geworden, dass die Reflexion über unser ethisch-moralisches Handeln immer öfter in den Hintergrund rückt.

Fataler Rückzug ins Private

Für Regisseur Stefan Meier steht deshalb der Aspekt im Raum: «Weshalb kämpfen so wenige gegen die aktuelle geistige Brandstiftung im In- und Ausland?» fragt er in einem Interview im Programmheft. Nach Meiers Interpretation beschreibt Frisch in «Biedermann und die Brandstifter» einen typisch schweizerischen Konflikt: «den Rückzug ins Private, unverbindlich, eine Gesellschaft von unpolitischen Kleinunternehmern mit äusserst reinem Gewissen, narzistisch, sich selbst belügend. Grosse Worte, kleine Taten.»

Die Aufschrift auf der Kranzschleife für einen treuen Mitarbeiter zeugt von wenig Mitmenschlichkeit.

So gesehen ist «Biedermann und die Brandstifter» eine zeitlose Parabel gegen Opportunismus und Gleichgültigkeit. Wer nicht handelt und nicht gegen Ungerechtigkeiten protestiert, macht sich zum Komplizen des Bösen. Denkt man nach dem Theaterbesuch an den sich verschärfenden Klimawandel, an die dramatischen Hungersnöte auf dem afrikanischen Kontinent oder an Putins rücksichtslosen Angriffskrieg auf die Ukraine, dann bleibt einem das Lachen im Hals stecken. Das «Lehrstück ohne Lehre» ist vor allem auch eine tragische Komödie, wie die exzellente Inszenierung in Bern beweist.

Titelbild: Während der Chor der Feuerwehrleute warnt, diskutieren die Biedermanns ihre wachsende Angst vor Brandstiftung. Alle Fotos: © Severin Nowacki.

Theater Effingerstrasse

Aufführungen noch bis am 26. November 2022

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1 Kommentar

  1. Wer die geistigen Brandstifter sind ist Ansichtssache. Für den Autor eindeutig jeder, der nicht links tickt. Schon mal etwas davon gehört, wie eine Demokratie funktioniert?

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