Aus «Blutbuch» wird «Blutstück»: Leonie Böhm bringt am Schauspielhaus Zürich Kim de l’Horizons literarische Sensation mit humorigen Einlagen auf die Bühne.
Kim de l’Horizons preisgekrönter Roman «Blutbuch» ist im Theater angekommen. Neben Hannover, Wien, Essen, Magdeburg und Bern steht die eigenwillig strukturierte Autofiktion jetzt auch in Zürich auf dem Spielplan. Geplant war die Zürcher Inszenierung im November 2023 als deutschsprachige Uraufführung. Weil der Autor, den die Regisseurin Leonie Böhm unbedingt dabei haben wollte, erkrankte, wurde die Zürcher Aufführung verschoben.
Konventionen aufbrechen
Die Erzählfigur im Roman ist nonbinär, also keinem Geschlecht zugehörig. Sie hinterfragt die eigene Vergangenheit, das Schweigen vorab der Grossmutter, die im Buch «Grossmeere» genannt wird und die tradierten Rollenmuster der rigiden Geschlechterdefinitionen verkörpert. Leonie Böhms Inszenierung bietet keine wortgetreue Wiedergabe des Romans, vielmehr ist es der Versuch, «den Roman zu verstoffwechseln, sich in ihn hineinschmeissen, ihn weiterspinnen, um gemeinsam herauszufinden, wie diese Scheisse in unsere Adern kommt». Mit von der Partie sind neben Kim de l’Horizon Gro Swantje Kohlhof, Sasha Melroch, Lukas Vögler und Vincent Basse, die in paradiesvogelhaften Kostümen sich redlich abmühen, die im Roman aufgezeigten Konventionen aus Schweigen, Scham und Scheinheiligkeit aufzubrechen.
Auf der Suche nach Gemeinschaft (v.l.n.r.): Kim de l’Horizon, Gro Swantje Kohlhof, Vincent Basse, Sasha Melroch, Lukas Vögler.
Gespielt wird auf einer mit aufblasbaren Stoffbahnen ausgelegten Bühne, die sich mal zu Wasserwellen, mal zu einem Penisbaum aufpumpen, mal bedecken mit Blutbahnen verzierte Tücher den ganzen hinteren Bühnenraum. In den Zuschauerraum ragen Stege, auf denen die Spielenden mit den Zuschauern Schabernack treiben (Bühnenbild: Zahava Rodrigo). Aus dem Dunkeln betritt die Erzählfigur (Kim de l’Horizon) mit einer Kerze die Rampe, trällert Robbie Williams Song «Feel» vor sich hin. Dann treten die übrigen Spieler an den Bühnenrand, vollführen ein liebliches Stegreifspiel mit humorigen Einlagen, nehmen sich immer wieder in die Arme, halten sich an den Händen, kommunizieren belustigt mit dem Publikum, immer auf der Suche nach gemeinschaftlichem Austausch.
Zurück in die Ursuppe
Erzählt wird die Geschichte der Ursuppe, aus der sich die Körper der Grossmeeren entwickeln mit ihrer «Scheisse in den Adern». Mit im Spiel sind auch verführerische und gewalttätige Ritter als Grosspere, die das wohlige Gefüge der Grossmeere durcheinanderbringen und den Ruf «Zurück in die Ursuppe» provozieren. Doch am Schluss obsiegt das Gemeinschaftliche, vom Himmel prasselt Regen, die Truppe umarmt sich, feiert ausgelassen den Ausbruch in ein neues, anderes Dasein. Kim de l’Horizon verabschiedet sich von den Spielenden, steht mitten im Zuschauerraum und berichtet von der immerwährenden Angst vor der Gewalt, die ihn begleitet. Eine berührende Schlussszene, die uns die tatsächliche gesellschaftliche Wirklichkeit vor Augen führt.
Befreiender Regen (v.l.n.r.): Lukas Vögler, Vincent Basse, Sasha Melroch, Gro Swantje Kohlhof, Kim de l’Horizon. Fotos: Diana Pfammatter
Dass der knapp zweistündige Abend im Pfauentheater nicht in Wohlfühlkitsch abrutscht, dafür sorgen die fünf Spielenden, vorab Gro Swantje Kohlhof und Lukas Vögler mit der Gitarre, die bravourös und humorig den Ausbruch aus überkommenen Normen veranschaulichen und vorantreiben. Dafür gabs an der Premiere immer wieder Zwischenapplaus und zum Schluss Standing Ovations.
Weitere Spieldaten: 26., 29. Februar, 3., 6., 12., 15., 16., 22. März, 1., 4. April
Auf berndeutsch kann man die Mutter «Mère» nennen und den Vater «Père». Entsprechend könnte man dann auch von der «Grossmère» sprechen, alles immer mit einem distanzierten oder fordernden Ausdruck. Nicht hinterhältig aber platzsuchend!