Eine Retrospektive der besonderen Art erwartet uns derzeit im Kunstmuseum Bern. Die Ausstellung «Chaïm Soutine. Gegen den Strom» zeigt Werke des wenig bekannten jüdisch-französischen Malers.
Chaïm Soutine (1893 – 1943) stammte aus einem kleinen jüdischen Schtetl in der Nähe von Minsk, heute Belarus. Sein Vater war Schuster oder Schneider und musste eher Gebrauchtes flicken als Neues fertigen. Chaïm war das zehnte von elf Kindern und bekam in seiner Familie sicher nur wenige Anregungen. Er zeichnete gern, egal ob auf Wände oder Papierschnitzel. Der Kleine wurde oft gescholten, denn in der jüdisch-orthodoxen Tradition sind Darstellungen von Menschen verboten.
Ausstellungsansicht. Foto: René und Elisabeth Bühler
Chaïm liess sich davon nicht beirren. Schon mit 10 Jahren reiste er nach Minsk, um zeichnen zu lernen. Für seinen Lebensunterhalt arbeitete er bei einem Fotografen. Und er lernte Michail Kikóin kennen, einen lebenslangen Freund. Das ist deshalb bemerkenswert, da Soutine in seinem Leben nur wenige Freunde besass, zu seinem Glück jedoch einige Förderer. Der wichtigste wird später in Paris der Maler Amadeo Modigliani (1884 – 1920). Dieser erkennt das Talent das scheuen, in sich gekehrten Jungen und unterstützt ihn, soweit ihm das möglich ist.
Auch die Reise nach Paris 1913 bezahlt ihm ein Gönner. In dieses Zentrum der Künste zu gelangen, war wohl der dringendste Wunsch des jungen Chaïm. Sein Freund berichtet: « . . . Soutine war wie verzaubert, und er verkündete, dass wir wirklich unfähig wären, wenn wir in einer Stadt wie Paris nichts zustande brächten.»
Chaïm Soutine: Nature morte aux harengs, 1916, Öl auf Leinwand, 68,9 × 86 cm. Galerie Larock-Granoff, Paris. Foto: Galerie Larock-Granoff, Paris
Platz findet er in einer damals berühmten Künstlerkolonie, er erhält Unterricht, kann bald für zwei Jahre die Académie des Beaux-Arts besuchen und bildet sich selbständig bei Besuchen im Louvre weiter, wo er die Künstler studiert, die ihn besonders anziehen: Rembrandt, El Greco, Camille Corot oder Gustave Courbet beispielsweise. Mit dem Französischen hat Soutine lange Jahre seine liebe Mühe, begeistert sich aber für die Gedichte von Charles Baudelaire.
Lange noch muss er in ärmlichsten Verhältnissen leben, zuweilen schläft er in einer Scheune, hält sich mit einfachsten Gelegenheitsjobs über Wasser. Mit dem Beginn des 1. Weltkriegs, der an ihm vorbeirauschen wird, muss er das Atelier wechseln. Immer plagen ihn Magenprobleme. – Ein Magendurchbruch wird 1943 zu seinem Tod führen, denn während der Besetzung Frankreichs durch die Nazis muss der Jude Soutine sich verstecken, und so kommt der Transport in einem Leichenwagen zu spät im Pariser Krankenhaus an.
Chaïm Soutine: La vieille actrice, um 1922. Öl auf Leinwand, 92,1 × 65,1 cm, Privatsammlung. Foto: Paul Hester, courtesy of McClain Gallery, Houston
Die Jahre dazwischen sind durch sein beharrliches Schaffen ausgefüllt. Soutine malt oft, was oder wen er in seiner Umgebung findet. Als er von Zborowski, einem mit Modigliani bekannten Pariser Galerist, 1919 für drei Jahre nach Céret in Südfrankreich geschickt wird, malt er Landschaften.
Die südlichen Lichtverhältnisse inspirieren ihn offensichtlich. Er malt dort Portraits einfacher Menschen von der Strasse. Sein ebenso eigenwilliger wie einzigartiger Malstil entwickelt sich: Seine Bilder sind nicht abstrakt. Die Formenexperimente der Kubisten, die damals auch in Céret leben, regen Soutine nicht an.
Er malt in starken Farben – sehr expressiv -, scheut Kontraste nicht, die Gegenstände wirken surreal, die Bäume wachsen schief, ein ganzer Ort scheint in ein unentwirrbares Durcheinander geraten zu sein. Ein andermal wirken die eng beieinander stehenden Häuser zusammengedrängt und seltsam in die Länge gezogen, so dass die Betrachterin meint, sie sähe keine Häuser, sondern weiss gewandete Geister, die vielleicht in den Gebäuden hausen. Der Faszination dieser Darstellungen kann sie sich nicht entziehen.
Chaïm Soutine: Les maisons. zw. 1920-1921, Öl auf Leinwand, 58 × 92 cm. Paris, Musée de l’Orangerie, collection Jean Walter et Paul Guillaume. Foto: bpk / RMN-Grand Palais / Hervé Lewandowski
Der kleine Ort Céret in den Pyrénées Orientales, nahe der Mittelmeerküste, ist heute berühmt für seine mittelalterliche «Teufelsbrücke», und für sein Museum, wo Bilder einiger Künstler, die dort lebten, ausgestellt sind.
Über den erwähnten Galeristen lernt A. C. Barnes, ein amerikanischer Sammler, Soutine kennen und ist begeistert von dessen Malerei. Er erwirbt im Laufe der Zeit viele Bilder, was Soutine endlich eine gewisse finanzielle Basis gibt. Über den Mensch Chaïm Soutine erfahren wir nur durch seine Zeitgenossen, er selbst hat nie Tagebuch geführt. Seine Bilder beurteilte er sehr streng. Es sei oft vorgekommen, dass Soutine seine Bilder zerstörte, wenn sie seinen Ansprüchen nicht genügten, lesen wir.
Das Malen – seine grösste Leidenschaft – bedeutete ihm grosse Nervenanspannung, Zeiten von totaler künstlerischer Lähmung wechselten mit Perioden intensiver Produktivität. Diese erlaubte es ihm nicht, zuerst Skizzen oder Vorzeichnungen auf der Leinwand anzufertigen. Er bringe die Farbe direkt auf die Leinwand, habe aber die beabsichtigte Wirkung stets im Auge, berichtet eine Zeitgenossin.
Chaïm Soutine: Le boeuf écorché, um 1925, Öl auf Leinwand, 72,5 × 49,9 cm. Kunstmuseum Bern, Legat Georges F. Keller 1981. Foto: Kunstmuseum Bern
Neben Landschaften und Portraits sind seine Stillleben besonders erwähnenswert. Es handelt sich um Bilder von Fasanen oder Hühnern, die Soutine wie tote Gegenstände mit langgezogenen Hälsen darstellt. Er hat sich wohl von holländischen Vorbildern inspirieren lassen. Im Schlachthaus besorgt er sich einen ausgeschlachteten Ochsen. Da die Arbeit an diesem Sujet länger dauert, besorgt er sich Blut und schüttet es über den Ochsen – sicher ein Schock für Atelierbesucher.
Bei seinem Tod 1943 kann Chaïm Soutine nicht als anerkannter Künstler gelten, obwohl Picasso, Max Jakob und Jean Cocteau an der Beerdigung auf dem Friedhof Montparnasse teilnehmen. Erst nach dem 2. Weltkrieg entdecken ihn amerikanische Vertreter abstrakter Malerei und beziehen sich explizit auf seine Kunst. Besonders zu erwähnen ist Francis Bacon (1909–1992) und dessen ebenfalls höchst eigenwilliger Stil.
Anne-Christine Strobel vor «Der Clown». Foto: René und Elisabeth Bühler
Das Kunstmuseum Bern will mit dieser Ausstellung, kuratiert von Anne-Christine Strobel, einen Beitrag dazu leisten, dem Künstler seinen angemessenen Platz zuzuweisen, und aufzeigen, wohin die Kunstgeschichte noch nicht genau genug geschaut hat. Denn die Malerei gehört zur Kernaufgabe dieses Museums, erklärt seine Direktorin Nina Zimmer, im Falle von Chaïm Soutine ist die Auseinandersetzung mit der europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts unerlässlich.
Diese Ausstellung wurde zuerst in Düsseldorf (K20 Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen) gezeigt, anschliessend in Dänemark (Louisiana Museum of Modern Art, Humlebæk).
Chaïm Soutine. Gegen den Strom. Kunstmuseum Bern, bis 1. Dezember 2024.
Im Untergeschoss wird ein sehenswerter Film gezeigt: Einige amerikanische Künstler berichten über ihr Verhältnis zur Kunst von Chaïm Soutine.
Titelbild: Chaïm Soutine: Paysage de Cagnes, 1923/1924, Öl auf Leinwand, 60 × 73 cm, Kunstmuseum Bern, Legat Georges F. Keller 1981. Foto: Kunstmuseum Bern