StartseiteMagazinKulturEin leuchtender Stern in Argentinien

Ein leuchtender Stern in Argentinien

Im Tessin geboren, als Vierjährige mit ihrer Familie nach Argentinien ausgewandert, dort als «femme de lettre» bekannt und geliebt – das ist Alfonsina Storni. Hildegard E. Keller schreibt über sie und ihre Epoche eine Biografie in zwei reichhaltigen Bänden.

Seit vielen Jahren forscht Hildegard E. Keller zu Alfonsina Storni (1892-1938), die nicht nur in Argentinien, sondern auch in den anderen Ländern Südamerikas bis heute hoch geschätzt ist. Als inzwischen emeritierte Professorin für deutsche und spanische Literatur, hatte sie sich zuerst den literarischen Werken gewidmet, hatte die verstreuten Gedichte, die Prosatexte und vergessene Theaterstücke gesammelt, übersetzt und herausgegeben.

Alfonsina Storni (© edition maulhelden)

Es ergab sich wie von selbst, dass die Autorin auch das Leben von Alfonsina Storni in Augenschein nahm, dieser aussergewöhnlichen Frau, selbstbewusst und modern im besten Sinne. – Die Titel der beiden Bände «Wach.» und «Frei.» charakterisieren Stornis Leben und weisen darauf hin, welche Wirkung sie auch nach ihrem Tod für Frauen bis heute besitzt.

Genaue, lebendige Schilderungen prägen die beiden Bände. Die Lebensumstände der Stornis, die Suche von Alfonsina nach ihrem Platz im Leben, die Entwicklungen in der Gesellschaft, kurz die Atmosphäre einer Epoche. Darüber schreibt Keller ebenso präzise wie spannend.

Eine Biografie in zwei reich illustrierten Bänden

Aufgrund ihrer gründlichen Recherchen zeichnet Hildegard Keller ein vielseitiges, lebendiges Bild der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts, nicht nur in Argentinien, sondern auch in Europa, denn als Erwachsene reist Alfonsina nach Europa und ins Land ihrer Geburt, wo sie entfernte Verwandte trifft und einiges über die politischen Verhältnisse in Italien und Europa um 1930 erfährt. Jede Begegnung wird zum Anlass, ein weiteres Stück Kulturleben zu schildern. So wächst aus der Biografie einer einzelnen Schriftstellerin und Poetin eine umfangreiche Kulturgeschichte heraus, kurzweilig zu lesen und reich an Informationen, insbesondere durch die zahlreichen Bilder, die uns nicht nur Alfonsina, sondern ihre ganze Epoche näherbringen.

Geboren wird Alfonsina in Sala Capriasca TI in unsicheren Zeiten. Die Familie Storni versucht, ihre Lebensumstände zu verbessern. Darum sind die Jahre um Alfonsinas Geburt von Unruhe geprägt. Ein Teil der Familie ist schon nach Argentinien ausgewandert. Alfonsinas Vater reist mehrmals hin und her, wahrscheinlich ist auch eine Portion Glück dabei, dass er sich bei der Geburt des kleinen Mädchens gerade im Tessin aufhält. In Argentinien, in San Juan, leben einige Stornis schon seit ein paar Jahren. Im August 1896 kommt das Schiff mit den Auswanderern in Buenos Aires an, im Land, das Alfonsinas Heimat werden wird.

Was macht diese junge Frau so besonders?

Das grosse Glück wartet nicht auf die Stornis. Alfonsinas Vater stirbt früh, ihre Mutter heiratet später noch einmal. Aber Alfonsina kann nicht so lange die Schule besuchen, wie es ihrer Intelligenz und ihrem Lernwillen entsprochen hätte. Zu schreiben hatte sie schon begonnen: «Als Zwölfjährige verfasse ich mein erstes Gedicht, nachts, als niemand sonst zu Hause ist», zitiert Keller aus den Tagebüchern.

Von der Baufirma Bencich Hermanos 1927 errichtetes Wohnhaus in Buenos Aires. Alfonsina Storni lebte in einer dieser Wohnungen. / wikimedia.org

Sie schliesst sich vorübergehend einer wandernden Theatergruppe an und schafft es irgendwie, eine Ausbildung als «Land-Lehrerin» abzuschliessen. Ich stelle mir vor, dass Alfonsina von Anfang an einen Weg gesucht hat, eigenständig, gleichsam nur sich selbst verantwortlich, zu leben und zu arbeiten. Lehrerin schien damals wohl geeignet, auch wenn sie als «Land-Lehrerin» nur auf dem Land, nicht in den grossen Städten wie Buenos Aires unterrichten durfte. Ihre erste Stelle erhält sie in Rosario.

Prägend für ihre Einstellung als Frau wird für Alfonsina die Begegnung mit frühen Feministinnen. In der Nationalen Liga der Feministinnen wird sie mit 18 Jahren deren Zweite Vizepräsidentin. Ihr Weg wird sie noch weit führen. Im Privaten entspricht ihr Leben ebenfalls nicht den üblichen Konventionen. Mit 19 Jahren bringt sie einen Sohn, Alejandro, zur Welt, ein «Kind der Liebe», wie sie sagt. Über dessen Vater bewahrte Alfonsina ihr Leben lang Stillschweigen. Nach ihrem Tode gab es Spekulationen und Recherchen, von denen Hildegard Keller kurz berichtet.

Mutig und selbstbestimmt

Von ihrem Leben, ihren Erfolgen, ihren Freundschaften, ihren Reisen lesen wir in den beiden Bänden. Immer wieder erstaunt Alfonsinas Vielseitigkeit und Lebensklugheit. An ihrem Lebensende beweist sie noch einmal, wie modern sie in ihrer Lebenseinstellung ist. Mit einer schweren Krebserkrankung, für die es damals keine Hilfe mehr gab, wählte sie den Freitod. – Weder Palliativcare noch Sterbehilfe hatten sich damals schon entwickelt bzw. etabliert. – Am 25. Oktober 1938 geht sie in Mar del Plata ins Meer, nachdem sie alles Notwendige sorgfältig geregelt hat. Hildegard Keller schreibt darüber in schlichten Worten. Umso mehr berührt es uns Lesende.

Betrübt und betroffen sind ebenfalls all die vielen, die Alfonsina Storni als Frau, als Poetin, als Schriftstellerin gekannt haben. Das Lied darüber Alfonsina y el mar ist bis heute in vielen Interpretationen bekannt. Vor allem ihre Gedichte leben auch in Schulbüchern weiter. Daneben hat sie viele Kurzgeschichten – damals eine moderne Textgattung – geschrieben. Sie konnten in Zeitschriften erscheinen und dienten ihrem Lebensunterhalt.

Hildegard E. Keller: Wach. Vom Leben und Weiterleben der Alfonsina Storni.
Biografie Band 1 (1870-1929). Zürich 2024. Edition Maulhelden. 285 Seiten mit vielen farbigen Abbildungen.
ISBN 978-3-907248-05-8

Hildegard E. Keller: Frei. Vom Leben und Weiterleben der Alfonsina Storni.
Biografie Band 2 (1930-2024). Zürich 2024. Edition Maulhelden. 333 Seiten mit vielen farbigen Abbildungen.
ISBN 978-3-907248-06-5

Informationen über die Werke von Alfonsina Storni.

Titelbild: Blick aufs Meer von Cabo Corrientes Mar del Plata / wikimedia.org

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