StartseiteMagazinKulturUnschuldsvermutung auf der Anklagebank

Unschuldsvermutung auf der Anklagebank

Eine erfolgreiche Strafverteidigerin wird selbst zum Opfer sexualisierter Gewalt. Das Schauspielhaus Zürich präsentiert eine äusserst gelungene Inszenierung von Suzie Millers MeToo-Monolog «Prima Facie» mit einer herausragenden Alicia Aumüller.

Das furiose Monodrama «Prima Facie» der australischen Autorin Suzie Miller wurde 2020 mit den wichtigsten australischen Preisen für neue Dramatik ausgezeichnet sowie mit dem Olivier Award, der höchsten Auszeichnung im britischen Theater. 2022 feierte es im Londoner Westend Erfolge und seit Frühjahr 2023 ist es am New Yorker Broadway zu sehen. Kürzlich erlebte das Drama Premiere in Luzern, jetzt am Zürcher Schauspielhaus.

Alicia Aumüller als erfolgreiche Strafverteidigerin Tessa Enzler erklärt ihren Aufstieg und Erfolg.

Tessa Ensler ist eine knallharte Strafverteidigerin. Mit Anfang dreissig hat sie geschafft, was die wenigsten ihr zugetraut hätten: den Weg aus einem Milieu ohne Privilegien an die Eliteuni und dann in die Topkanzlei. Ihre Königsdisziplin ist die Verteidigung in Fällen sexueller Übergriffe. Ist ihre Freispruchrate so hoch, weil sie so gut Lücken und Widersprüche in den Aussagen der weiblichen Opfer aufspürt? Doch ihre Karriere wird erschüttert, als sie selbst vergewaltigt wird. Der Täter ist kein Unbekannter, sondern ihr Kollege Julian, mit dem sie eine Büroaffäre hat. Als sie Anzeige erstattet, ist ihr klar, dass die Anscheins- oder Prima-facie-Beweise nicht für sie sprechen, aber es geht ihr nicht nur um persönliche Gerechtigkeit, sondern auch um die Abrechnung mit einem von Männern geschaffenen Justizsystem, an das sie ihr Leben lang geglaubt hat.

Monolog über Aufstieg und Erfolg

Die Regisseurin Barbara Weber präsentiert auf der Zürcher Pfauenbühne 90 Minuten lang eine höchst spannende Inszenierung mit einer überragenden Darstellerin. Alicia Aumüller liefert ein grandioses Spiel, in dem sie Stück für Stück Tessas Lebensgeschichte erzählt und alle auftauchenden Figuren gleich mitspielt. Zu Beginn im Bett liegend ist sie mit Selfies beschäftigt, lichtet mit ihrem Handy einzelne Körperteile ab, die auf eine Grossleinwand hinter dem Bett projiziert werden. Die Bühne ist mit Bett, Stuhl, Schreibtisch und Nachttisch karg möbliert (Bühnenbild: Sara Valentina Giancane). Sie richtet sich auf, beginnt mit ihrem Monolog, erklärt dem Publikum ihren Aufstieg und Erfolg als  Strafverteidigerin. Sie kleidet sich an, stolziert vor der ersten Zuschauerreihe auf und ab, verkündet genüsslich, dass sie bei ihren durchboxten Freisprüchen ihr Gegenüber im Zeugenstand nicht quält wie manch anderer Kollege. Sie glaubt auch an das Rechtssystem, das im Zweifel zugunsten der Angeklagten entscheidet.

Tessa Enzler im Zeugenstand

Dieser Glaube wird arg erschüttert, als sie von der Verteidigerin zur Befragten wird. Nach 782 Tagen seit der Anzeige selbst im Zeugenstand, fällt es ihr schwer, den nicht einvernehmlichen Geschlechtsverkehr zu erklären, verhaspelt sich in gewisse Widersprüche, muss erkennen, wie schwierig es ist, die Schuld des Angeklagten beweisen zu müssen. Einfach grossartig, wie Alicia Aumüller die Opferrolle meistert, wie sie die Vergewaltigung in allen Einzelheiten schildern muss, Unstimmigkeiten in ihren Aussagen sichtbar macht, ihr Glaube am Rechtssystem zu hinterfragen beginnt. Die Wartezeit bis zum Prozessauftakt wird mit wackligen Bildern und Videos aus dem harten Alltag der Protagonistin überbrückt. Gewissensbisse plagen Tessa Enzler, ob der Geschlechtsverkehr nicht doch einvernehmlich erfolgt ist, derweil ihr angeklagter Bürokollege Julian sich mehr und mehr in der Opferrolle sieht.

Alicia Aumüller als Tessa Enzler wird zur Befragten. Fotos: Philip Frowein

Wie erwartet, wird Julian freigesprochen. Tessa Enzler beklagt zum Abschluss thronend über dem Bett in einer torförmigen Öffnung das männerdominierte Justizsystem, erinnert daran, dass jede dritte Frau sexualisierte Gewalt erfährt, fordert zu möglichen Veränderungen auf. Bei allem Vorbehalt gegen diesen deklamatorischen Abschluss, geboten wird eine berührende Inszenierung mit einer herausragenden Alicia Aumüller über eine erfolgreiche Anwältin, die zum Missbrauchsopfer wird. Untermalt wird die Aufführung mit passenden Musikeinlagen von Michael Haves. Dafür gabs am Premierenabend stehende Ovationen.

Weitere Spieldaten: 20., 25., 29. November, 3., 10., 16., 21. Dezember, 3. Januar 2025

Spenden

Wenn Ihnen dieser Artikel gefallen hat, Sie zum Denken angeregt, gar herausgefordert hat, sind wir um Ihre Unterstützung sehr dankbar. Unsere Mitarbeiter:innen sind alle ehrenamtlich tätig.
Mit Ihrem Beitrag ermöglichen Sie uns, die Website laufend zu optimieren, Sie auf dem neusten Stand zu halten. Seniorweb dankt Ihnen herzlich.

IBAN CH15 0483 5099 1604 4100 0<

Kommentieren Sie den Artikel

Bitte geben Sie Ihren Kommentar ein!
Bitte geben Sie hier Ihren Namen ein

Beliebte Artikel

Mitgliedschaften für Leser:innen

  • 20% Ermässigung auf Kurse im Lernzentrum und Online-Kurse
  • Reduzierter Preis beim Kauf einer Limmex Notfall-Uhr
  • Vorzugspreis für einen «Freedreams-Hotelgutschein»
  • Zugang zu Projekten über unsere Partner
  • Massgeschneiderte Partnerangebote
  • Buchung von Ferien im Baudenkmal, Rabatt von CHF 50 .-