1 KommentarWeihnächtliche Stimmungsschwankungen - Seniorweb Schweiz
StartseiteMagazinLebensartWeihnächtliche Stimmungsschwankungen

Weihnächtliche Stimmungsschwankungen

Was Weihnachten ist, wusste und weiss ich irgendwie. Meine feierliche weihnächtliche Grundstimmung wurde bisher moduliert je nach Altersphase, familiärer Situation, Festgemeinschaft, religiöser Orientierung, (Nicht)Befolgen von familiären Ritualen, Aufenthaltsort, Wetter.

Als Kleinkind freute ich mich vor allem an den Geschenken, an den Liedern, die wir gemeinsam sangen, am feierlich geschmückten Weihnachtsbaum mit den Christbaumkugeln, in denen ich mich spiegeln konnte. Das Geschenk, das mich im Vorschulalter am meisten freute, war ein Spielzeugpanzer, der, nachdem ich ihn mit einem Schlüssel aufgezogen hatte, losdonnerte und Funken aus dem Panzerrohr sprühte. Erst viel später merkte ich, dass es ein unsinniges Geschenk war. Als Weihnachtsgeschenk in der ersten Klasse schenkte mir mein Götti ein Buch über den wilden Hengst Fury, das ich nach zwei Tagen gelesen hatte. Mehr als das Buch freute mich damals das Lob, das ich als Ersteklasseschnellleser einheimste.


Eine Weihnachtskugel, in der sich die Welt spiegelt (Foto von Alexa auf Pixabay)

Ab der zweiten Primarklasse bis zu meiner Glaubenskrise war ich Ministrant (Messdiener in der katholischen Kirche) und wollte Pfarrer oder Missionar werden. Meine Karriere als Ministrant begann damit, dass ich nach der Predigt bei den Gläubigen das «Opfer» einzuziehen, also die Geldspenden einzusammeln hatte. Dann wurde ich Akolyth, der gewisse Messtexte auf Lateinisch auswendig lernen und im passenden Moment beten musste. In feierlichen Messen wie an Weihnachten amtete ich auch als Thuriferar (Weihrauchfassschwinger), als Navikular (Weihrauchschiffchenträger) oder als Ceroferar (Leuchterträger). Das Höchste der Gefühle hätte ich erleben können, als ich, fünfzehnjährig, im Hochamt am Weihnachtstag Zeremoniar sein durfte, aber da waren die Zweifel am liturgischen Brimborium schon heftig am Nagen.

«Ertappte Ministranten» von Claudius Schraudolph dem Jüngeren, vor 1902. (Foto Wikimedia commons). Der Sakristan ertappt die beiden Ministranten beim Trinken des übrig gebliebenen Messweins. Der kleinere Ministrant hat das Weihrauchfass abgestellt und wartet sehnlichst auf den verbotenen Schluck.

Die Funktionsbegriffe für die  Ministranten verwendete in meiner Kindheit der fast 2 m hohe Hochwürdige Herr Vierherr Hofer, der zuständig war für die Ausbildung und den Einsatz der Ministranten. Ein Blick auf die Website der Pfarrei St. Georg in Sursee, wo ich aufgewachsen bin, zeigt, dass am Weihnachtsabend immer noch ein Mitternachtsgottesdienst und am Weihnachtstag ein Weihnachtsgottesdienst mit Kirchenchor und Orchester gefeiert wird. Da kommt neben anderen Gefühlen ein Hauch Nostalgie auf.

Nun, zu meinem 71. Weihnachtstag ziehe ich die Weihnachtspredigt des Mystikers Johannes Tauler (um 1300 bis 1361) zu Rate. Sie trägt die Überschrift: «Puer natus est nobis et filius datus est nobis – Ein Kind ist uns geboren und ein Sohn ist uns geschenkt» (Jes 9,5). In dieser Weihnachtspredigt spricht Tauler von einer dreifachen Geburt und drei dazugehörigen Messfeiern: «Die erste Geburt nun, das ist, dass der himmlische Vater seinen einziggeborenen Sohn in göttlicher Wesenheit und im Unterschied der Person in sich gebiert. Die zweite Geburt, die man heute feiert, das ist die mütterliche Fruchtbarkeit, die jungfräulicher Keuschheit und völliger Lauterkeit zuteil wurde. Die dritte Geburt besteht darin, dass Gott alle Tage und alle Stunden wahrhaft geistig in Gnade und Liebe geboren wird in jeder guten Seele.» Die erste Messe wurde im 14. Jahrhundert in der Mitternachtsmesse am 24. Dezember gelesen, die zweite in der Morgendämmerung zum Weihnachtstag (25.12.) hin und die dritte am hellen Weihnachtstag. Während die ersten beiden Geburten ihre eigene Bewandtnis, aber einen relevanten Bezug zur dritten Geburt haben, kann die dritte Geburt direkt in uns geschehen, wie folgende Zitate zeigen: «Er (d.h. Gott) wird allezeit ohne Unterlass in uns geboren.»…»Wie denn? Die Seele hat drei edle Kräfte, in denen sie ein getreues Abbild der heiligen Dreifaltigkeit ist: Gedächtnis, Verstand und freier Wille. Durch diese Kräfte ist sie fähig, Gott zu erfassen und ihn aufzunehmen, so dass ihr alles das zuteil werden kann, was Gott ist und hat und geben will.»

Tauler thematisiert hier also die Gottesgeburt in der Seele, wie die beiden anderen Mystiker, Meister Eckhart und Heinrich Seuse, des «mystischen Dreigestirns».  Nach Luise Gnädinger braucht es für die dritte Geburt ein kreftig inker – eine kraftvolle Einkehr: «Sämtliche Kräfte müssen dabei aus der Zerstreuung eingeholt und gesammelt werden (…) Alle Strebungen in jedem der innermenschlichen Bereiche haben sich einzig auf Gott auszurichten, eigenes Wollen, Begehren und Wirken muss still werden.» Angelus Silesius (1624- 1677) wird später sagen: «Wird Christus tausendmal in Bethlehem geboren und nicht in dir, du bleibst noch ewiglich verloren.» 

«Weisse Weihnachten» begünstigen eine feierliche Grundstimmung (Foto aus Pixabay)

Fragen? Klärung kann vielleicht dieses Buch geben: Johannes Tauler. Gotteserfahrung und Weg in die Welt. Herausgegeben, eingeleitet und übersetzt von Louise Gnädinger. Olten 1983. Dort ist auch die Weihnachtspredigt Taulers vom Mittelhochdeutschen ins Neuhochdeutsche übersetzt, S. 65-72. Eine Verbindung zum Zen-Buddhismus schafft Shizuteru Ueda (1926- 2019) in seinem Buch «Die Gottesgeburt in der Seele und der Durchbruch zur Gottheit. Die mystische Anthropologie Meister Eckharts und ihre Konfrontation mit der Mystik des Zen-Buddhismus» (Erstmals erschienen 1965).

Wer es aber nicht bloss zum lesemeister bringen möchte, kann versuchen als lebmeister im Alltag von egoistischen Orientierungen loszulassen, um so das Wirken «göttlicher» Kräfte in konkreten Lebenssituationen zu ermöglichen.

Schon erschienen:
– Der Mythos von weissen Weihnachten – von Linus Baur
– Zwischen Tradition und Klimawandel – von Peter Schibli

– Warten mit Buddha – von Ruth Vuilleumier
– Keine Spur von Schnee und Eis – von Sibylle Ehrismann
Liebe Frau Holle, was ist mit Ihnen los? – von Peter Steiger
– Lieber weiss als Weihnachten – von Robert Bösiger
Schnee! – Schon geschmolzen? – von Maja Petzold
Weihnachts-Wunderland in Bild und Ton – von Bernadette Reichlin
– Erinnerungen – von Josef Ritler

 

 

Spenden

Wenn Ihnen dieser Artikel gefallen hat, Sie zum Denken angeregt, gar herausgefordert hat, sind wir um Ihre Unterstützung sehr dankbar. Unsere Mitarbeiter:innen sind alle ehrenamtlich tätig.
Mit Ihrem Beitrag ermöglichen Sie uns, die Website laufend zu optimieren, Sie auf dem neusten Stand zu halten. Seniorweb dankt Ihnen herzlich.

IBAN CH15 0483 5099 1604 4100 0<

1 Kommentar

  1. Stimmungsschwankungen glaubhaft transzendiert

    Immer wieder freue ich mich über Beiträge im Seniorweb, die gleichzeitig persönlich und welthaft, emotional und klug sind. Ein solcher war in meinen Augen der Text «Weihnachtliche Stimmungsschwankungen» vom 25. Dezember von Beat Steiger.

    Du lässt uns, lieber Beat, nah an dich heran, erzählst von deiner fulminanten Ministranten-Karriere bis zur (Nicht)Befolgung familiärer Rituale und bis zur Zeit, als Zweifel am liturgischen Brimborium schon heftig am Nagen waren, uns dann aber zu deinem 71. Weihnachtstag zu den Mystikern führst und mit Angelus Silesius abschliessest: «Wird Christus tausendmal in Bethlehem geboren und nicht in dir, du bleibst noch ewig verloren.»

    Solche Beiträge helfen mir und wohl noch vielen in einer Welt der Wirren und des Chaos. Herzlichen Dank.

    Hanspeter Stalder

Kommentieren Sie den Artikel

Bitte geben Sie Ihren Kommentar ein!
Bitte geben Sie hier Ihren Namen ein

Beliebte Artikel

Mitgliedschaften für Leser:innen

  • 20% Ermässigung auf Kurse im Lernzentrum und Online-Kurse
  • Reduzierter Preis beim Kauf einer Limmex Notfall-Uhr
  • Vorzugspreis für einen «Freedreams-Hotelgutschein»
  • Zugang zu Projekten über unsere Partner
  • Massgeschneiderte Partnerangebote
  • Buchung von Ferien im Baudenkmal, Rabatt von CHF 50 .-