Pierre Favre, 1937 in Le Locle geboren, begann mit 15 als Autodidakt Schlagzeug zu spielen und wurde 1954 Profimusiker. Er spielt überall auf der Welt in grossen und kleinen Sälen mit international renommierten Musikern oder auch solo. Seniorweb führte bei ihm zuhause im Züribiet ein Gespräch.
In einem Artikel werden Sie «Trommelkünstler» genannt. Was sagt Ihnen dieser Name?
Pierre Favre: «Trommelkünstler» stimmt, «Schlagzeuger» stimmt nicht.
Sie führen ein Künstlerleben. Wie geht das?
Es gibt «Künstler» und «Künstler». Die einen wollen berühmt und reich werden, andere lieben ihre Kunst und wollen dafür leben. Musikern, die ihre Musik lieben, kann es passieren, dass sie berühmt werden, aber das ist ein Nebeneffekt. Ich wollte immer der beste sein, aber nur der beste mir selbst. Deshalb musste ich nie in Konkurrenz zu jemandem treten. Heute, im 88. Lebensjahr, arbeite ich immer noch daran, ein guter Künstler zu sein.
Pierre Favre: Trommelkünstler, Komponist
Sind Sie zufrieden mit dem, was Sie erreicht haben?
Wenn man eine gewisse Qualität und ein gewisses Niveau erreicht hat, eröffnen sich neue Welten und die Liebe zu dem, was man tut, wächst.
Gibt es in dieser Liebesgeschichte nicht auch Probleme?
Schon, aber man hat Freude am Spielen oder nicht. Freude kann man nicht machen.
Sie haben mit 15 zu spielen begonnen, als ihr Bruder Sie als Schlagzeuger in seiner Band haben wollte. Hat sich von da an diese Freude und diese Liebe konstant entwickelt?
Ja, diese Liebe ist konstant gewachsen. Ich wollte zunächst Bauer werden, aber als mich mein Bruder ins Schlagzeugspielen hineindrängte, hat er mir mein grösstes Geschenk gemacht. Plötzlich wollte ich nur noch Schlagzeug spielen.
Man könnte also sagen, Sie sind ein treuer Liebhaber.
Ja, das Schlagzeug ist meine lebenslängliche Maitresse. Diese Maitresse hat mir Mut gegeben, hat mich getröstet, hat mir Kraft gegeben weiterzumachen. Heute noch stehe ich morgens um drei auf, beginne zu spielen und versuche noch besser zu werden.
Im Keller kann Pierre Favre auch morgens um drei Uhr spielen, da muss er nicht Rücksicht auf die Schlafenden nehmen.
Wenn das Schlagzeug ihre Maitresse ist, dann ist es ja kein Gegenstand, sondern Sie haben eine Beziehung zu Ihren Instrumenten, sie geben Ihnen auch etwas.
Ja, ich bin leidenschaftlich verliebt in die Musik, so wie andere auch ihre Leiden- und Liebschaften haben.
Sie sind also durch die Musik ein Liebender geworden. Hat sich denn diese Liebe ausgedehnt auch auf Menschen, auf die Natur usw.
Ja, in der Musik entwickelt man Moral, Disziplin und Anstand und man kann ein wahrer Mensch werden. Es gibt Leute, die machen Marschmusik. Damit kann man eigentlich nur in den Krieg ziehen. Das ist nicht schön. Aber es gibt afrikanische Rhythmen, da vermählt sich das Männliche mit dem Weiblichen und umgekehrt. Deswegen wurde ich Jazzmusiker.
Sie sind ein poetischer Musiker.
Als Jazzmusiker muss man Phantasie haben. Als Poet erleben Sie das Schöne im Leben, einen schönen Blick, ein schönes Lächeln. Andere leben und spielen mechanisch. Rhythmus ist nicht mechanisch, alles ist organisch.
Der Herzschlag ist auch organisch.
Für das Metronom ist der Herzschlag undeutlich und für das Herz ist das Metronom undeutlich. Wer musikalisch mit dem Metronom erzogen wird, wird zu einem Soldaten, der geht und tötet. Wer organisch arbeitet, hat Moral, spielt friedfertig und atmet frei. Er macht keine Fehler, sondern es entstehen Ideen, die sich entwickeln. Und es entwickeln sich dadurch auch weitere Techniken des Spielens. Damit habe ich Freiheit und Phantasie – das ist wunderbar, aber es ist nicht alles. Es muss auch stimmen. Und wenn man mit jemandem zusammenspielt, kann es Unstimmigkeiten, sogar Konflikte geben.
Was stimmt, erfahren Sie intuitiv?
Ja, intuitiv, aber es gibt in der Musik gewisse Regeln wie in der Sprache, sonst wird man nicht verstanden. Wenn Sie zum Beispiel nach einer Phrase zu einem Grundton zurückkommen, kann das Publikum merken, dass es wieder nach Hause kommt. Man kann sich vielleicht in einer ungewöhnlichen Art ausdrücken, aber man muss doch zu einem Schlusspunkt kommen.
Ein weiteres Setting im Keller für das poetische Spiel
Was erwarten Sie vom Zuhörer?
Der Zuhörer muss nicht verstehen, was ich spiele, aber ich erwarte, dass er etwas empfindet. Er muss nur offen und empfänglich sein. Bei einem Kleid müssen Sie auch nur wissen, ob es Ihnen gefällt, ob der Anzug passt. Sie müssen nicht wissen, wie das Kleid genäht ist. Das weiss der Schneider.
Ich habe überall auf der Welt gespielt, in Amerika, Japan, Bali, Brasilien, Afrika, Europa – und überall gab es Verbindung. Im Dschungel von Java sagten sie mir: Du bist einer von uns, du bist willkommen bei uns, du kannst wohnen bei uns, solange du willst. In deinem Spiel zeigst du, dass du einer von uns bist. Das ist sehr schön.
Musik kann auf dem ganzen Planeten tief empfunden werden. Ihr Vater soll ein Weltbürger gewesen sein.
Ja, zu meiner Geburt, 1937, hat mein Vater einen Pass gekauft im Jura, einen Weltbürgerpass. Das war damals möglich, und so hatten mein Vater und ich einen Weltbürgerpass. Und Musik kann auf der ganzen Welt zwar nicht verstanden, aber empfunden werden. Sie ist völkerverbindend. Es ist wie mit der Liebe. Man muss sie nicht verstehen, sie zu empfinden genügt. Letzthin hat mir eine Frau aus Luzern nach einem Konzert geschrieben, sie sei während des Konzerts plötzlich ergriffen worden vom inneren Atem. Es sei ein kosmischer Atem gewesen und er wirke nach. Sowas freut mich.
Hat das Altern ihre Musik verändert?
Ja, ich habe gemerkt, ich spiele rhythmisch jetzt etwas langsamer als früher. Warum? Weil es jetzt tiefer atmet. Und mein Publikum ist nicht mehr so aufgeregt, wird im Laufe des Konzerts immer ruhiger und es gibt Menschen, die weinen. Und das ist das Ziel.
Was ist das Ziel?
Dass wir zusammenkommen, dass wir eins werden und zusammen atmen.
Das tönt ja wie Meditation.
Ja, das ist es.
Hier eine Auswahl von Cymbals oder Becken
Sie sagen, Musik braucht Disziplin.
Musik verlangt höchste Disziplin. Ich stehe üblicherweise morgens um drei Uhr auf und gehe dann in den Keller, um zu spielen. Und man fängt von vorne an jeden Tag. Disziplin heisst also nicht, äussere Regeln zu befolgen wie im Militär, sondern man möchte jeden Tag besser werden. Und für das Spielen muss der Manager draussen bleiben. Es wird nichts organisiert, Musik ereignet sich. Auch Konflikte aus dem Alltag müssen draussen bleiben. Ich muss die Konflikte gelöst oder mindestens auf die Seite geschoben haben, bis ich spielen kann. Die Vorbereitung aufs Spielen verlangt eine Reinigung vom Alltagskram.
Nochmals zu Ihrem Alter? Woher holen Sie die Kraft?
Ich glaube, ich bin jetzt einfach glücklich. Ich hatte auch schwierige Zeiten wie jeder Mensch, aber ich habe immer mein Bestes gegeben, um die Situation erträglich zu machen. Ich habe andern nicht Vorwürfe gemacht, so wie mir meine Eltern auch nie was vorgeworfen haben. Das ist wohl das grösste Geschenk meiner Eltern. Meine Eltern waren äusserlich eher arm, aber innerlich sehr reich.
Wie sieht der Alltag des Pierre Favre in seinem 88. Lebensjahr aus?
Ich nehme mir für alles Zeit und es gibt täglich Abweichungen. Normalerweise stehe ich um drei Uhr nachts auf. Man sagt, um drei Uhr nachts und um fünf Uhr nachmittags wechselt die Energie der Erde. Leute, die meditieren, meditieren um drei Uhr nachts. Zunächst trinke ich einen Kaffee und esse vielleicht ein kleines Stück Brot. Dann gehe ich in den Keller und beginne zu spielen. Die ersten Töne sind wie Regentropfen. Dann werden es mehr und es entwickelt sich etwas, vielleicht eine Stunde lang. Dann lege ich mich nochmals hin, ein Genuss, und schlafe vielleicht ein. Ich mache, was Zen-Leute sagen: Bist du müde, schlafe! Hast du Hunger, esse! Hast du Durst, trinke! Dann ist alles gut.
Djembes warten auf Regentropfentöne und auf das, was sich daraus entwickelt.
Tagsüber gibt es verschiedene Aktivitäten: Vielleicht habe ich ein Rendez-vous oder Telefonate, spiele zwischendurch oder unterrichte Schüler. Der Unterricht dauert unterschiedlich lang, gerade gestern war eine Schülerin aus Basel 3,5 Stunden lang hier. Dann gibt es ehemalige Schüler, die mich besuchen. Im Unterricht wird bei mir viel gesprochen. Ins Bett gehe ich, wenn ich müde bin. Das kann um 8, 10, oder 12 sein.
Wie geht es Ihnen gesundheitlich?
Jetzt geht es mir sehr gut. Als ich 16 war, hatte ich einen Unfall und verletzte ein Knie. Deswegen hinke ich, doch seit ein paar Jahren fing es an etwas zu schmerzen. Aber ich habe mit dem lädierten Knie im Wallis die meisten Gipfel bestiegen, auch den Monte Rosa. Als ich letzthin mal überlegte, ob ich vielleicht ein künstliches Kniegelenk einbauen lassen sollte, sagte mir der Arzt: Das wäre schade, denn dann sind alle Gefühle weg, die sie seit 16 mit diesem Knie erlebt haben. Bleiben Sie mit diesem Knie.
Jetzt noch eine bessere Geschichte: Als ich 8-jährig war, sagten die Ärzte, ich würde wohl nicht 20 werden wegen eines Herzklappenfehlers. Jetzt bin ich schon mehr als viermal 20 geworden. Meine Lebenskraft kommt wohl aus der Freude… und die Freude ist einfach da oder sie kommt aus dem Göttlichen, das in jedem Menschen ist. Und jetzt möchte ich mindestens 94 werden, denn ich möchte nicht gehen, bevor meine jüngste Tochter 20 ist, sie ist jetzt 13.
Herzlichen Dank, Pierre Favre, für das Gespräch.
Titelbild: Pierre Favre lädt im Wohnzimmer in seine Welt und in seine Klangwelten ein. (Alle Fotos bs)
Zum 80. Geburtstag 2017 hat Seniorweb Pierre Favre porträtiert.
Pierre Favre – In 80 Jahren um die Welt. Film in der Sternstunde Musik zum 80. Geburtstag
ach mein lieber freund. etwa 1960 organisierte ich im theatre de poche ein konzert mit dir, irène schweizer und glaublich peter kowald. du bist für mich der grösste perkussionist , den ich kenne.
werde 94. mindestens.
In Willisau habe ich Pierre Favre zuerst gehört und seine Präsenz und Musikalität ist mir immer präsent, manchmal kann man ihn noch am Radio hören.
Hoffentlich kann dieser aussergewöhnliche Mensch und Musiker den 20sten Geburtstag seiner Tochter bei bester Gesundheit erleben.