Sie war Mitbesitzerin eines Tonstudios, arbeitete 36 Jahre lang für das Schweizerische Rote Kreuz, ist Mutter eines Sohns und Grossmutter von zwei Enkelkindern. Zu ihren vielen Hobbies zählen Bergwandern, Pilze sammeln, Kochen, Alphorn blasen und Alphornstunden geben. Seniorweb hat Anita Tobler (79) an ihrem Wohnort in Uettligen besucht.
Bereits der Eingangsbereich hinter der Haustür erinnert an eine Dauerausstellung: Bilder, Postkarten, kleine und grosse Steinmannli, gedörrte Pflanzen, hübsche Kunstwerke aus Eisen oder Holz, originelle Reiseandenken begrüssen den Besucher. Dazwischen steht Anita Tobler und beginnt gleich mit dem Erklären und Erzählen.
Auch ihr Haus, das sie in Anlehnung an das «Kurioseum» ihres Bruders «Anitasium» nennt, gleicht einem Museum. Jeder Gegenstand hat eine Geschichte, nicht jeder erfüllt einen Zweck. Täglich verwendet werden Buchstaben und Symbole aus Karton: Liegt ein P am Boden, dann darf Anita das Pflanzengiessen nicht vergessen.
Ein Fenstersymbol erinnert sie daran, dass sie offene Fenster vor dem Weggehen schliessen muss. In einer Wohnzimmerecke steht eine Werkbank mit Zangen, Hammer und sonstigen Werkzeugen: Mit einem Baustellen-Signal und der Aufschrift «Sorry» entschuldigt sich die Künstlerin beim Besucher, dass sie nicht wie üblich im Keller, sondern im Wohnzimmer kreativ arbeitet.
Musikalische Ader
Zwei Notenständer und ein Alphorn lassen vermuten, dass Anita Toblers Wohnzimmer auch ihr Übungszimmer ist. Hier bläst sie das alpine Horn. An der Ständerlampe hängt ein Zettel mit drei Worten: «Üben üben üben».
Geübt wird im Wohnzimmer.
Dass sich in diesem Haus vieles bewegt, davon zeugt eine Wohnzimmerecke mit Blick auf die Terrasse. Hier hängen kunstvolle Spiralen, selbst kreierte Mobile, die – einmal in Bewegung gesetzt – eine gefühlte Ewigkeit lang drehen. Hier erzählt mir Anita von den 226 Limericks, die sie bisher gedichtet hat. Ein Limerick ist ein kurzes, in aller Regel scherzhaftes Gedicht in fünf Zeilen mit dem Reimschema aabba und einem (relativ) festen metrischen Schema. In der «Bewegtenecke» lese ich:
O weni d’Wäut nid rette cha
Tueni bätte a däm Plätzli da
I dene bewegte Zyte
Chame nume bitte
Dass me höcher obe lehrt verstah.
Ich frage mich: Wohnt in diesem Haus eine Alphorn-blasende Dichterin? Neugierig möchte ich mehr über das Leben dieser aussergewöhnlichen Frau erfahren. Wir nehmen am Tisch Platz. Aufgewachsen ist Anita Tobler zusammen mit ihrem Bruder Heinz Beier in Bümpliz. Bereits in der 4. Klasse wusste sie, dass sie Ingenieurin werden wollte. Doch ein technischer Beruf blieb ihr (vorerst) verwehrt. Auf Drängen der Eltern machte sie die Aufnahmeprüfung ans Lehrerinnenseminar, landete dann aber in der Berner Töchter-Handelsschule (THB), die sie auch absolvierte.
Ihre erste Stelle fand sie in der Direktion der Berner Kantonalbank als Sekretärin. Da die Herren Direktoren von ihr erwarteten, dass die junge Frau sie in den Ausgang begleitete, liess sie sich in die Kreditabteilung der Bank versetzen.
Innovative HiFi-Anlagen und Tonaufnahmen
Doch ihr Interesse galt der Technik und der Musik. Gemeinsam mit ihrem Bruder Heinz sowie dem Tonmeister gründete und betrieb sie in den 60er Jahren ein professionelles Tonstudio. Der eigentliche Auslöser war die Aufnahme eines Konzerts, des Requiems von Berlioz, im Berner Münster, was trotz der anfangs noch bescheidenen Ausrüstung doch Beachtung fand. «Mit der Zeit verwendeten wir nur die besten technischen Geräte und entwickelten zudem auch eigene HiFi-Lautsprecher. Wir waren Pioniere und deshalb nahezu konkurrenzlos,» erzählt Anita mit glänzenden Augen.
Aufträge erhielt sie vor allem von wohlhabenden Leuten, in deren Behausungen sie «Audio-System nach Mass» konzipierte und installierte.
Nebst Filmstudios (zum Beispiel der Armeefilmdienst) zählten auch die Swiss-Jazz-School, das Berner Sinfonieorchester und die damalige PTT zum Kundenkreis. Nach einem tragischen Unfall des Tonmeisters liess sich das Geschäft leider nicht mehr wie gewohnt weiterführen und musste schweren Herzens liquidiert werden.
Studioarbeit war, wie Alphornblasen heute, in jenen Jahren eine Männerdomäne.
Es folgten sieben magere Jahre: Anita brauchte diese Zeit, um alle Gläubiger zu befriedigen. Selbst wohnte sie in grosser Bescheidenheit in einem 400jährigen Haus, wurde zur Selbstversorgerin und pflegte ihren Partner, bis dieser an Stöcken wieder gehen konnte.
O we dr ds Wasser am Haus steit
Merksch dass ds Schnufe geng no geit
Trotz au dene Sache
Chasch ja o no lache
U wyter geits mit Heiterkeit.
Um unverzüglich zu Geld zu kommen, arbeitete Anita zunächst für eine Temporärfirma. Einer dieser Jobs führte zur Festanstellung beim Schweizerischen Roten Kreuz (SRK), wo sie für Spenden und die jährliche Mai-Sammlung zuständig war.
1985 verkündete eines Tages der Betreuer des vor Jahresfrist eingeführten EDV-Systems, dass er nicht mehr kommen werde. Was tun? Einfach mal Anita fragen, sie flickt schliesslich ja auch etwa Schreibmaschinen. Mit telefonischer Hilfe von IBM (was ist Enter?) gelang es ihr dann tatsächlich, das entsprechende File auf einen Datenträger zu kopieren, so dass die Bank die Monatslöhne noch rechtzeitig auszahlen konnte.
Nach einem wöchigen Operator-Kurs in Zürich, eine veritable Männerdomäne, fühlte sie sich befähigt, anhand der umfangreichen Literatur autodidaktisch das nötige Wissen für Programmierung und Installationen anzueignen. So wuchs die Anlage mit zusätzlichen Programmen von anfänglich zwei auf 120 Bildschirmplätze, verkabelt auf 5 Stockwerken. Dabei war ihr Motto: «Die Maschine den Menschen so angenehm wie möglich gestalten». Nach 8 Jahren im Alleingang betreute sie dann als neue Herausforderung die Rechenzentren und Netzwerke im rasch wachsenden IT-Team.
So erfüllte sie sich im zweiten Anlauf den Wunsch nach einem technischen Beruf doch noch. Beim SRK blieb sie 36 Jahre lang, 21 davon als IT-Spezialistin. Zugleich erzog sie ihren Sohn Michel, der nach einer Lehre als Automechaniker ins Velobusiness wechselte und heute in der Lorraine das erfolgreiche Geschäft «Velokurierladen» führt.
Übrigens, warum wohl hat Anita im alten Tauner-Haus mit Holzfeuerung und ohne fliessend Wasser noch weitere 10 Jahre verbracht? Sie wollte einfach ihrem Sohn allenfalls ein Studium ermöglichen und auch ihren eigenen Studiertraum hatte sie noch im Kopf. Mit dem nun gesparten Geld war es naheliegend, ein Eigenheim zu erwerben. 37 besichtigte Objekte im Laufe eines Jahres führten nicht zum Ziel, bis zum Inserat mit Kaufpreis und Telefonnummer. Sie meldete sich mit Tobler und von der anderen Seite kam auch Tobler! Allerdings hätten sie schon 100 Bewerbungen, hiess es.
Langwieriger Hauskauf
Bei der Besichtigung ergab sich dann, dass lediglich 17 den nicht üblichen Bedingungen – Wartezeit 3 Monate bis 3 Jahre und Barzahlung samt Hypothek am Tag der Übergabe – gerecht werden konnten. Auch Anita war glücklicherweise dazu in der Lage. Nach einem Wochenende mit Sechser-im-Lotto-Bangen den positiven Bescheid zu erhalten, war ein unbeschreibliches Gefühl! Und bereits einige Monate später konnte sie zusammen mit ihrem Sohn in das wunderbare Doppelhaus einziehen (so viele Wasserhähne!). Ein paar nicht ins Züribiet gezügelte Möbelstücke erhöhten die Freude noch. Trotz der Distanz bildete sich zwischen den beiden Toblers eine schöne Freundschaft.
Musikalische Karriere als Alphornbläserin
1990 entschloss sich Anita, ein Instrument zu erlernen. Das Akkordeon war eine Option. Aber es kam anders. Als sie nach dem Besuch eines Orgelkonzertes zufällig neben einem Herrn sass, der sie in der Folge zu einer Alphorn-Probe mit 9 gestandenen Mannen einlud, wechselte sie spontan auf das alpenländische Blasinstrument, das sie von der Pieke auf erlernte. Seit 1997 ist sie Mitglied («mir sy üsere 12 Manne») der Alphornbläsergruppe Oberaargau, die eben ihr 50jähriges Jubiläum feierte (nunmehr mit 17 Mitgliedern worunter 7 Frauen). 2004 besuchte Anita einen Alphorn-Gruppenleiterkurs und gibt seither auch Unterricht.
Töne aus der Giesskanne
Unterwegs ist sie mit ihrer Show unter dem Titel «Alphorn & Co: Entertainment mit Alphorn, Gartenschlauch und Giesskanne». In der halben Welt trat sie zusammen mit Karl-Heinz Krebser als Duo in der Tracht auf. Auch gehörte die Erststimmenbläserin während des 6jährigen Bestehens dem «Schweizer Alphornbläserinnen Ensemble» (vierstimmig mit 16 Frauen) unter der Leitung von Jozsef Molnar an. Ein Höhepunkt ihrer Alphornkarriere war demnach die Teilnahme am Konzert dieser Gruppe im Strawinsky-Saal Montreux im Jahr 2000.
Seit vielen Jahren spielt Anita in der «FrauenKunstGugge Le Pipistrelle» mit dem Euphonium die Basslinie und beteiligt sich intensiv an der Gestaltung der Kostume. Dabei geht es jeweils um die Umsetzung eines geeigneten Werks einer bekannten Künstlerin. Gegenwärtig ist dies die Spinne «Maman» von Louise Bourgeois.
Quasi als Altersvorsorge, für Zeiten, wenn das Alphornblasen mit dem relativ kleinen Mundstück nicht mehr befriedigen sollte, hat die bald Achtzigjährige das Tenorhorn erlernt und spielt bei «BrassoDio» Bümpliz die Bariton-Stimme.
Kreatives Wirken wird zur Leidenschaft
Die Corona-Epidemie brachte einen weiteren Wendepunkt in Anitas Leben: Wie alle von uns in den Lockdown gezwungen, begann sie mit während Jahrzehnten auf Bergtouren gesammelten Materialien und weiteren weggeworfenen Stoffen zu arbeiten: Ganz nach dem Motto «Us nüt öppis mache». Inzwischen sind so über 200 Objekte entstanden, wobei einige bereits an vier Ausstellungen zu sehen waren.
Anita Tobler.
Seit jeher ist kreatives Kochen (Überbegriff: «anitasische Küche») ein eigentliches Hobby. Und Möbel hat sie noch nie in einem Möbelgeschäft gekauft, sondern selbst hergestellt, am Strassenrand oder beim Trödler gefunden und an Brockis erstanden.
Anita ist nach eigener Aussage «süchtig nach Natur und nach Pilzen». Die ehemalige SAC-Tourenleiterin macht immer noch Bergwanderungen (pro Jahr rund 100 000 Höhenmeter, zu Fuss hinauf und runter mit der Bahn). Auch löst sie fürs Leben gern Denksportaufgaben. Jeweils zu seiner Zeit betrieb sie zudem Judo, Karate, Flamenco und Yoga.
Für all ihre Tätigkeiten hat sie ein Lebensrezept:
Das Glück im eigenen Herzen tragen
und ausströmen lassen in alle Winde.
Nicht suchen und nach dem Morgen fragen,
annehmen, was am heutigen Tag ich finde.
Die Menschen lieben, so wie sie sind,
nichts erwarten, aber immer offen sein.
Sich an allem freuen wie ein Kind
und der Seelenfrieden stellt sich ein.
Titelbild: Anita Tobler im Kreis ihrer Alphornfreundinnen und -freunde. Fotos PS/ZVG
In vielem, was Anita Tobler tut, ist sie seelenverwandt mit ihrem Bruder Heinz Beier. Über den «Tinguely von Cordast» hat Seniorweb bereits berichtet.
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Hallo Anita
Gratuliere zu deiner Reportage. Habe ja soviel von dir gelesen was ich nicht wusste, obwohl wir uns schon sehr lange kennen. Ich finde es super wie aktiv noch immer bist! ich wünsche dir weiterhin, dass du das machst was du liebst.