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Zwischen Rebellion, Macht und Freiheit

Premiere von Max Frischs «Graf Öderland» am vergangenen Samstag bei Bühnen Bern: Regisseur Armin Petras versteht das Stück als «Parabel über eine moderne Gesellschaft». Inhaltlich ist die Inszenierung ein Gemisch aus Frisch, Brecht, Marx, Petras, ergänzt mit Texten von Hausautor Ralph Tharayil und Liedern von Juli Niemann, nach Gedichten von Ingeborg Bachmann. Ein bisschen viel aufs Mal.

Graf Öderland ist ein zeitloser Klassiker aus der Nachkriegszeit. Angeregt durch einen Zeitungsartikel über einen Mordfall im Kanton Zürich verfasste Max Frisch im Jahr 1946 eine erste Prosaskizze, die im Folgejahr als Teil des «Tagebuchs mit Marion» veröffentlicht wurde. Für das Theater bearbeitete Frisch den Stoff mehrfach. Die Uraufführung fand am 10. Februar 1951 im Schauspielhaus Zürich statt. Der Autor nannte das Drama sein «liebstes Werk».

Die Villa des Staatsanwalts mit dessen Homeoffice im Parterre.

Der Inhalt basiert auf der überholten These, dass im Kapitalismus Menschen vor  gesellschaftlichen Zwängen fliehen, um durch eine Rebellion die echte Freiheit zu erreichen. Ausgangspunkt der Handlung ist der scheinbar grundlose Mord eines gewissenhaften Bankangestellten, der einen Hausmeister mit der Axt erschlägt. Einzig der Staatsanwalt (gespielt von Jonathan Loosli) bringt Verständnis für die Tat auf und lässt sich von ihr zum geträumten Ausbruch aus seinem geordneten Leben inspirieren.

Saubannerzug durch ein ödes Land

Traum: Köhlertochter Inge mit Graf Öderland auf dem Weg in den Untergrund.

Den Traum träumt die Köhlertochter Inge (Jeanne Devos), die ihrerseits aus ihrem Elend ausbricht, die Familie verlässt und im Traum zur Geliebten des Staatsanwalts wird. Nach schlaflosen Nächten verwandelt sich der überarbeitete Ankläger in Graf Öderland, der mit einer Axt in der Hand durch ein ödes Land zieht und alle tötet, die sich seinem Anspruch auf Freiheit entgegenstellten. Warum er dies tut, weiss er selber nicht.

Hinter ihn scharen sich dunkle Gestalten, Aussteiger, Obdachlose, Bettler, Kriminelle, aus dem System gefallene Menschen, die in der Kanalisation auf Santorin leben. Der Saubannerzug des Staatsanwalts und seiner Militionäre entwickelt sich zu einem allgemeinen Aufruhr gegen die Regierenden.

Bewacht vom Gendarm (rechts) wird der Mörder (Mitte) von Dr. Hahn (links) befragt.

Die Rebellion wiederum führt zum politischen Umsturz eines korrupten Regimes, ohne dass sich allerdings die ersehnte Freiheit verwirklichen lässt. Immerhin bietet man Graf Öderland am Ende den Posten des Staatspräsidenten an, was dieser aber mit der Begründung ablehnt, er wolle nur leben.

Darauf wird ihm mit dem Schlüsselsatz geantwortet: «Wer, um frei zu sein, die Macht stürzt, übernimmt das Gegenteil der Freiheit, die Macht.» Der Staatsanwalt erwacht aus einem bösen Traum und stellt ernüchtert fest, dass Freiheit innerhalb des Systems, in dem er lebt, nicht zu haben ist.

Realität v. surreale Märchenwelt

Die erste und die letzte Szenen des Stücks sind in der Realität verankert. Alle Szenen dazwischen spielen in einer Art surrealer Märchenwelt, die anfänglich zauberhaft wirkt, aber mehr und mehr in eine dunkle Gewaltorgie abgleitet. In einer Inszenierungsanweisung schrieb Frisch, dass «das Stück, je mehr es fortschreitet, sich in einen sogenannt phantastischen Raum begibt: der Zuschauer soll die Geschichte erst dann, wenn er sie als Ganzes kennt, mit unserer Wirklichkeit konfrontieren.»

Von Brecht beeinflusst

Max Frisch hatte das Stück Graf Öderland – offenbar von Bertolt Brecht und dessen klassenkämpferischen Werken inspiriert – in einer ersten Stückfassung als «Moritat» mit Liedstrophen zwischen den Szenen geplant. Allerdings wurden die Gesangseinlagen aus der Zürcher Uraufführung gestrichen. Moritaten sind von einem Bänkelsänger vorgetragene Lieder mit einer meist eintönigen Melodie, die schauerliche oder rührselige Geschichten zum Inhalt haben und mit einer belehrenden Moral enden.

Graf Öderland (stehend, rechts) und seine Mitstreiterinnen in der Kanalisation. Im Vordergrund, liegend, seine Geliebte, Inge. 

In der Berner Inszenierung von Armin Petras werden Moritaten vom Ensemble oder von einzelnen Spielenden akkustisch mittels eines Saalmikrofons vorgetragen. Gewiss eine attraktive Idee. Die technische Beschallung aber, insbesondere das Verhältnis zwischen Gesang und Begleitmusik, ist suboptimal.

Gelungenes Bühnenbild

Ausgesprochen gelungen kommt dagegen das Bühnenbild (Natascha von Steiger) daher: Bespielt werden vier Fassaden eines steinernen Gebäudes, das auf einer Drehbühne rotiert: 1.) die Villa des Staatsanwalts mit dessen Büro im Erdgeschoss, 2.) ein Köhlerhaus mit einer Gefängniszelle im Erdgeschoss, 3.) eine beleuchtete Gaststätte sowie 4.) ein Kanalisationsrohr. Die Kostüme (Cinzia Fossati) sind, je nach Rolle, mehr oder weniger farbig, luxuriös (Familie des Staatsanwalts), verlumpt (Köhlerfamilie), martialisch (Graf Öderland), edel (Regierungsmitglieder) oder glitzernd (Hellseher).

Trotz eingestelltem Verfahren: Der Mörder stirbt und verlässt die Welt in Richtung Himmel.

Das zehnköpfige Schauspielensemble, das zum Teil in Doppel- oder Dreifachrollen agiert, besteht aus Jonathan Loosli (Staatsanwalt sowie Graf Öderland), Susanne-Marie Wrage (dessen Gattin), Linus Schütz (Doktor Hahn und greiser Staatspräsident), Jeanne Devos (Staatsanwaltstochter Hilde, Köhlertochter Inge), Claudius Körber (Mörder und Hellseher), Jan Maak (Vater und Innenminister), Johannes Mager (Köhlermutter, Fahrer und Kulturträger), Sascha Bitterli (Concierge und Witwe des ermordeten Hausmeisters), Tillmann Depping (Gendarm, Sträfling, Kulturträger), Jakob Fessler (Student, Gendarm, Kulturträger).

Weniger wäre mehr

Insgesamt wirkt Frischs schlichte Geschichte am Berner Stadttheater mit ausgefallenen Regieideen überladen. Da schwebt Graf Öderland als Revolutionär auf die Bühne herab, worauf der mordende Bankangestellte mit den Füssen voran in den Himmel aufsteigt. Auch für Aktualität wird gesorgt: Hinweise auf die unerträglichen Kriegszustände in Gaza dürfen nicht fehlen. Als Zuschauer springt man von Gag zu Gag, von Melodue zu Melodirüohne dass genügend Zeit für eine geistige Verarbeitung besteht, von einer ansatzweisen Reflexion ganz zu schweigen.

Graf Öderland / der Staatsanwalt (im schwarzen Anzug, Dritter von links) zurück in der Realität: Die Rebellion ist gescheitert.

Kapitalismus-, Gesellschafts- und Justizkritik in Ehren: Aber weniger Ablenkung wäre in diesem Fall mehr gewesen. Frischs Nachkriegsklassiker wird bei Bühnen Bern nicht als Drama, sondern als unterhaltende Satire aufgeführt, die trotz vereinzelten Lachern im Publikum wenig mit Humor zu tun hat. Der überwältigende Applaus am Schluss der Premiere dürfte wohl eher der hervorragenden schauspielerischen Gesamtleistung als der Regie gegolten haben.

Titelbild: Die Revolution frisst ihre eigenen Kinder: Graf Öderland und seine Mitstreitenden in der Kanalisation. Alle Fotos © Florian Spring.

Weitere Aufführungen:

16.2./ 22.2./ 27.2 / 28.2./ 8.3./ 28.3./ 6.4./ 12.4./ 6.5./ 22.5./ 4.6 / 12.6.2025

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Bühnen Bern

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