Als in der Politik die populistischen Plakate besonders schreiend wurden, sprach ich mit einem Chefredaktor vom schlechten Stil und sagte ihm, Stil sei auch Inhalt. Er widerspiegle nicht nur die Meinung zu einer Sache, sondern auch den Charakter des Denkens. Er antwortete, die Politik müsse sich nicht um den Stil kümmern. Es gehe um Macht. Trotz seiner Antwort hielt ich fest, dass es Stilfrage sei wie man mit Gegnern umgehe. Hier ein Beispiel:
Die Mode des Duzens macht sich breit. Es herrscht teilweise die Meinung, das Duzen demokratisiere den Umgang mit den Menschen. Ähnliches geschehe mit den Sozialen Medien. Bewegungen wie das Duzen haben an sich nichts mit Demokratie zu tun. Wenn der Satz gilt, alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich, heisst das für das praktische Leben nicht, man könne mit jedem Menschen umgehen, als wäre er ein Duzfreund.
Schon in den 20-er Jahren des letzten Jahrhunderts bemängelte der spanische Philosoph Ortega y Gasset die Mode, andere beliebig mit Du anzusprechen. Er schrieb 1926, die Mode habe stets eine viel tiefere und ernstere Bedeutung, als man leichthin annehme. An der «Mode des Duzens, die sich gegenwärtig auch zwischen flüchtig bekannten Menschen einbürgere, (-könne-) man die politischen und ethischen Wandlungen ablesen, die im Kommen seien.» Y Gasset sah schon bald, wie sich Menschen um einen Führer sowohl in Spanien als auch in Deutschland scharten und einander duzten.
Wir leben schon seit einiger Zeit wieder in der aufkommenden Mode des Duzens. Schon einige Male wurde ich von jüngeren Menschen einfach geduzt. Ich hatte auf der Zunge: «Haben wir Duzis gemacht»? Es passte nicht zu meinem Stil. Ich blieb beim Siezen, machte mich bald auf und ging: «Ich wünsche Ihnen einen guten Tag» oder: «Lassen Sie es sich gut gehen.»
Für mich zählte der Brauch, dass man das Duzen zelebriert. Dies gehört zum guten Stil. Man vergisst so nicht, dass man mit einer Person per Du geworden ist. Wie ganz anders ist es, wenn man sich an der Fasnacht duzt, so wie es unter Narren üblich ist. Es geschieht flüchtig und man vergisst es wieder.
Ich frage mich, was die wieder an Boden gewinnende Mode des Duzens voraussagt. Vielleicht wird deutlich, dass die zwischenmenschliche Achtung abnimmt. Man wird mit Meinungen und Halbwahrheiten egalisiert. In der Folge nehmen Höflichkeit und Anstand ab. Handy oder iPhone sind Gleichmacher. Im Zug oder Bus beobachte ich, dass Menschen unter Menschen seltsam abwesend sind und dies auch markieren.
Als ich letzthin im Zug den Platz, auf dem mein Rucksack lag, freimachte, um jemandem, der einen Sitzplatz suchte, zu bedeuten: «Sitzen Sie doch hierher.» Ich fügte bei: «Der Rucksack hat den Platz nicht bezahlt.» Der freundliche Spass führte zu einem Gespräch. Es stellte sich heraus, dass es sich um einen Psychologie-Studenten handelte, der den griffbereiten Laptop sofort versorgte, als ich anmerkte: Bei der Universitätspsychologie lehre man viel Theorie und wenig praktische Anwendung. Ich hätte die meiste Psychologie von meinem Vater gelernt, der Viehhändler gewesen sei, obwohl ich während meines Studiums auch Vorlesungen in Psychologie besucht hätte. Dies führte zu einem munteren Gespräch.
Der Student hatte Stil und er sprach mit mir ernst über sein Studium. Das Gespräch beglückte mich und ich dachte, die Sache mit dem guten Stil ist trotz neuer Mode noch nicht verloren.


Ich kann mich noch gut an den erbosten Ausruf von Berner:innen erinnern, die von Unbekannten geduzt wurden: Hei mir scho mal zäme Söi ghüetet?
Auch für mich stimmt es nicht, wenn ich von Fremden, auch im Internet, geduzt werde; ich habe auch schon reklamiert. Als registrierte Kundin z.B. wird das aber meistens respektiert und werde mit Frau M.. angeschrieben. Werde ich auf der Strasse von Unbekannten mit du angesprochen, regiere ich wie Sie, geschätzter Herr Iten, ich antworte mit Sie oder gar nicht.
Das Duzen hat in unserer Kultur noch immer etwas mit sich kennen und auf Augenhöhe sprechen zu tun. In englisch sprechenden Kulturen steht das Wort you für alles, ob du, ihr, Sie, dir, euch, Ihnen, es sagt nichts über die Nähe der Beziehung aus.
Ich bin davon überzeugt, dass das allgemeine Duzen die Hemmschwelle für Anstand und Respekt in unserer Gesellschaft dauerhaft negativ verändert.
Ich kann aber auch sehr respektvoll duzen oder respektlos siezen.
Man merkt aber auch ein bisschen, ob es passend ist jemanden zu duzen oder nicht. Die Überlegung, dass ein wohlwollendes Du eher Barrieren abbaut und eine Begegnung auf Augenhöhe ermöglicht hat aber schon etwas dran. So nach dem Motto du und ich, wir, beide Bewohner des einzigen Planeten mit Menschen, lass uns zusammen reden. Wieso sollst du mir fremd sein?
Nur so ein paar Gedanken…
danke
Die Mode, fremde Leute ungefragt zu duzen, ist nun gar nicht mehr neu, sondern grassiert schon sehr lange. Man könnte auch sagen, dass es mittlerweile ein alter Hut und keine Mode mehr ist.
ich habe vor einem Menschen nicht mehr Achtung, wenn ich ihn siezen muss. Für mich ist der Charakter massgebend. Es erscheint mir ein wenig dünkelhaft, wenn man gewisse Menschen vom duzen ausschliesst, weil sie einem nicht würdig dafür erscheinen. So tönt das, liebe Siezer. Ich mag es, wenn ich geduzt werde und ich wurde noch nie geduzt und dann respektlos behandelt. Im Gegenteil. Ich fühlte mich akzeptiert und angenommen. Das freut mich. Dieses Distanzgehabe und «ich entscheide, wer mich duzt und wer mich siezt» und «jetzt hat sich jemand verdient, mich zu duzen» scheint mir ein wenig gar bieder und ja halt wirklich altschweizerisch. Wie auch immer. Es bleibt sowieso nichts wie es ist. Es wird sich wieder ändern. Also bleibt cool und duzt und umarmt einander, die Weltlage ist schlimm genug und es hat keinen Platz für bürgerlichen Dünkel. Danke.
Wenn ich einen neuen Menschen kennenlernen darf, läuft auf verschiedene Ebenen ein kleines Programm ab. Wirkt die Person sympathisch, dominant, interessant, bemerkenswert auf mich? Was sehe ich in den Augen meines Gegenübers. Oder habe ich ganz spontan keine Lust auf diesen Menschen. Meistens ein Sekundenbruchteil.
Das neutrale Siezen ermöglicht mir, gemeinsame Interesse, Gewohnheiten, auch die Herkunft und manchmal eine Zielrichtung zu erkennen. Wir bewegen uns auf einer gemeinsamen Ebene. Auf Augenhöhe, wie man sagt. Die Form der Ansprache schliesst nie aus, es ist eher ein Anschliessen an Gemeinsamkeiten. Man nähert sich an.
Mit dem Duzen sucht man Nähe, die gemeinsame Nähe, man schliesst die Person ein in den Kreis der Vertrauten, der Nahestehenden. Nach dem eigenen Willen und Bedürfnis.
Natürlich gibt es Momente, da ist das Du die richtige Form. In der Familie, in den Bürgerdiensten, auf dem Fussballplatz, in der Gewerkschaft und der Partei. Da ist das Verbindende gegeben.
PS: Geschätzter “Farol”, ich habe ihre Meinung gelesen und akzeptiere sie, aber ich respektiere sie nicht. Und ehrlich, ich habe schlicht keine Lust, Sie kennen zu lernen.