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Früher oder später

Mit meinen 87 Jahren wird mir bewusst, dass wir alle früher oder später sterben werden. Die Pandemiediskussion hat diese Erkenntnis ins Zentrum meines Bewusstseins gerückt. Und erlaubt mir einen ganz neuen Blick auf die Welt. Gleichsam einen losgelösteren.

Das Sterben ist, salopp gesagt, nicht mehr eine Frage des «ob» – das war es natürlich nie – sondern nur noch eine des «wann». Neben meinem Computer habe ich an der Wand auf Augenhöhe in einem kleinen Rahmen eine Kunstkarte aufgehängt. Das Bild stammt von Arnold Böcklin und nennt sich «Selbstbildnis mit fiedelndem Tod». Böcklin hört, mitten im Malen, aufmerksam hin. Der Fiedler spielt, dem Maler zugeneigt, intensiv auf seinem Instrument. Mein Blick fällt häufig auf das Bild. Es gefällt mir sehr gut und lädt immer wieder zum Nachdenken ein.

Nach wie vor zieht vieles, was um mich herum und weltweit geschieht, meine Aufmerksamkeit auf sich. Ich erlaube mir heute eine gelassenere Sicht auf die Dinge als früher. Was heisst das? Ehedem war es für mich wichtig, mit meinen Ansichten, meinen Standpunkten, meinen Meinungen, richtig zu liegen, recht zu haben. Und jetzt sitze ich gleichsam auf einem Logenplatz und betrachte die Geschehnisse um mich herum fast wie eine Theateraufführung.

Ich ertappe mich dabei, wie mich heute bei politischen Diskussionen weniger die Argumente als die Art und Weise, wie sie vorgebracht werden, interessieren. Und meine Sympathie liegt bei jenen, die ein Gespräch gut führen, einander ausreden lassen. Das war übrigens früher auch nicht meine Stärke. Erst mit den Jahren habe ich mühsam gelernt, dass manchmal zuhören mehr bringt als unbedingt überzeugen zu wollen.

Die Fernsehsendung «Arena» verfolge ich in letzter Zeit häufig, um die aktuellen Akteurinnen und Akteure im Bundesparlament kennen zu lernen. Wobei mir klar ist, dass die «Arena» nicht das Abbild des realen Umgangs mit politischen Themen ist. Der reale Umgang mit einem politischen Thema zeigt sich sowieso erst in der entsprechenden Volksabstimmung!

Eindrücklich finde ich, wie die Altersunterschiede zwischen Menschen in jedem Lebensalter eine andere Rolle spielen. Das erlaubt mir, Freunden und Kolleginnen, die um die siebzig Jahre alt sind, entgegen zu halten: «Was meint Ihr denn, dass ihr vom Alter versteht, Ihr jungen Schnösel.» Das quittieren sie meist mit einem verdutzten Erstaunen.

Und dann mache ich ihnen die Aussicht auf mein eigenes Alter schmackhaft. Es betrübt mich, wenn Bekannte, deren 80. Geburtstag in Aussicht steht, in Wehklagen verfallen. Ganze Litaneien muss ich mir anhören – zuhören ist ja angesagt – von Dingen, die auf sie zukommen werden. Es stimmt alles. Körperliche und seelische Leistungsfähigkeit nehmen ab, einfache Verrichtungen erfordern mehr Zeit. Die Anfälligkeit für Beschwerden und Gebrechen nimmt zu. Und das Schlimmste an allem ist, dass es immer wieder gilt, von lieben Menschen Abschied zu nehmen. Der Kreis der Vertrauten wird immer kleiner. «Die Einschläge kommen immer näher», sagt der alte Artillerieoberst.

Was bringt mich denn dazu, mein Umfeld aufzumuntern: «Verpasst das hohe Alter nicht!». Das ist ganz schwierig zu formulieren. Die Beobachtungen, die Gedanken, auch die Erinnerungen, bekommen eine neue Dimension. Für mich selbst nenne ich das: «Die Szenerie wird mit zusätzlichen Scheinwerfern ausgeleuchtet». Plötzlich verstehe ich, warum mir jemand seinerzeit, in einer bestimmten Situation «stur», «überempfindlich», «nicht kooperativ» vorgekommen ist. Ich bin schon mehr als einmal für mich zum Schluss gekommen, dass ein Widerstand, eine Ablehnung, eine Aggression gar nicht so gemeint gewesen war, wie ich sie verstanden hatte. Das kann zur Bereinigung in einer Beziehung, zur Versöhnung mit der Vergangenheit führen.

Muss mal bei der Gilde der Psychologen anklopfen. Einen gelehrten Namen wird dieser Zustand sicher haben!

Etwas werde ich nie lernen. Mich mit dem Leid, der Not, der Ungerechtigkeit abzufinden, die in der Welt herrschen. Im Zusammenhang mit der Landung des Rovers «Perseverance» auf dem Mars las ich, dass Tausende von Menschen über Jahre hinweg auf dasselbe Ziel hingearbeitet und es gemeinsam erreicht hätten! Und jedes Mal, wenn ich etwas in dieser Art lese, stelle ich dieselbe Frage: Wie wäre es, wenn Tausende von Menschen während Jahren darauf hinarbeiten würden, den Hunger, das Flüchtlingselend, die kriegerischen Konflikte in der in der Welt zu beenden?

«Wir» können auf dem Mond, auf dem Mars landen. Warum können wir nicht mit demselben Einsatz dem Unheil in der Welt ein Ende setzen? Das wären Projekte, die der Attraktivität der Ziele der Raumfahrt mindestens ebenbürtig wären! Bei wem muss ich da wohl anklopfen?

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4 Kommentare

  1. So ist es richtig!!!!

    «Wir» können auf dem Mond, auf dem Mars landen. Warum können wir nicht mit demselben Einsatz dem Unheil in der Welt ein Ende setzen? Das wären Projekte, die der Attraktivität der Ziele der Raumfahrt mindestens ebenbürtig wären! Bei wem muss ich da wohl anklopfen?

  2. Vives félicitations à Judith Stamm pour cette belle réflexion autour du grand-âge et de la mort qui nous attends toutes et tous en silence… Pour moi, l’atmosphère du peintre Arnold Böcklin dans «L’Ile des morts» (Toten Insel) est aussi une forme de représentation symbolique magnifique, ou encore «Der Heilige Hain».
    André Durussel (1938)

    Referenz: «La maison invisible», poèmes. Verlag Samzisdat, Genève, 2009 (ISBN 2-940188-41-6)

  3. https://www.weforum.org/agenda/2015/07/how-much-global-poverty-fallen-past-25-years/
    Leider gehen positive Entwicklungen in der täglichen Newsüberflutung meist unter oder werden schon gar nicht berichtet. Ja es gibt zuviel Elend auf diesem Planeten. Nur hat sich seit dem Ende des real existierenden Sozialismus vor 30 Jahren die Welt für Milliarden noch nie in so kurzer Zeit positiv entwickelt. Rund 1 Mrd. weniger Menschen in totaler Armut und Hunger seit dem Jahr 2000. Und fast 4 Mrd. mehr Menschen, die in 30 Jahren aus Armut in eine Art Mittelklasse aufgestiegen sind. Vorab in Asien.

  4. Danke, liebe Judith Stamm, ich habe deine Zeilen mit grosser Freude gelesen. Ich bin dir erst auf den Fersen, bin 79 Jahre alt, aber ich bin v.a. in dieser Coronazeit des Rückzugs dran, dieses Privileg des stillen und neugierigen Beobachtens zu schätzen, liebe die Stille immer mehr. «Gelassenheit» nehme ich an, ist der Begriff, den du meinst, dass ihn Psychologen ( das ist meine Gilde) für diesen hellwachen Zustand haben. Was für eine Erfahrung, all das, was sich tut, was andere noch tun müssen, wie wir es auch getan haben ( z.B. in der «Arena» sich ereifern) mit Grosszügigkeit zu begleiten! Lass uns im Geist einen «Club von wohlwollenden und weisen Alten» bilden, Besserwisserische und Klagende gibt es schon genug- frei nach dem Gebet der hl. Theresa von Avila «Gebet des älter werdenden Menschen»- es sind wunderbare Gedanken da drin. Ja, wir könnten wieder lernen alt zu werden!

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