StartseiteMagazinLebensartPlanen und Erinnern: Reise in den wilden Épirus

Planen und Erinnern: Reise in den wilden Épirus

Darf man mitten in einer weltweiten Pandemie eine Reise tun? Wohl eher nicht, aber die Gedanken sind frei, in der Erinnerung oder auch beim Planen im Kopf zu reisen. Diesmal ins wilde Griechenland, zu den Schluchten, Wäldern und Flüssen des Épirus.

Die Region Épirus im äussersten Nordwesten Griechenlands ist alles andere als ein Ziel des Massentourismus. Eine abwechslungsreiche Natur macht sie besonders. Dazu kommen eine reichhaltige Geschichte und sehr gastfreundliche Menschen.

Sollten wir – vielleicht geimpft – bald reisen dürfen, heisst es nach wie vor, sich umsichtig zu verhalten. Aber wir dürfen uns auch nicht von allem abhalten lassen. Ja, ich vermisse es, in spannende Gegenden zu reisen. Sich vorbereiten bringt Vorfreude. Die Reise im Nachhinein nochmals vor Augen zu führen, schliesst sie ab.

Im kleinen Park weht eine frische Brise durch die Mauern der venezianischen Festung mit einem kleinen Kafenion.

Die Berge sind im Norden Griechenlands nie weit. Der Épirus, ein rauher und wild-romantischer Landstrich erstreckt sich vom Gebirgsmassiv des Píndos bis zu den Küsten des Ionischen Meeres und der Grenze zu Albanien. Doch, es gibt, was Touristen in Griechenland meist suchen, auch hier die Strände, beispielsweise auf der Insel Lefkáda.

Ausserhalb der Hauptsaison und vermehrt noch im kommenden Corona-Sommer lohnt es sich, Flug und Reise mit der Hilfe eines Reisebüros zu organisieren. Die nächstgelegenen regionalen Flugplätze sind Ioánnina und Préveza. Mit dem Mietauto fuhren wir zuerst nach Párga, einem hübschen Badeort, besucht vor allem von Einheimischen. Über der verwinkelten Innenstadt bietet die Festung gute Sicht auf die zerklüftete Küste und die kleine Insel mit Kapelle vor dem Hafen.

Dreissig Kilometer südöstlich von Párga bei Mesopótamos liegen die Ruinen des Totenorakels Nekromanteion. Auch heute noch ein von Geheimnissen umgebener Ort. Durch ein Labyrinth wurden seinerzeit Lebende, die die Seelen ihrer toten Angehörigen besuchen wollten, zum Totenorakel geführt. Nach antiker Vorstellung konnten Seelen, die nach der Trennung vom Körper unsterblich geworden waren, in die Zukunft schauen.

Das Nekromanteion: bekannt im antiken Hellas, zerstört von den Römern – die gut ausgegrabene Anlage ist immer noch beeindruckend.

Die Priester manipulierten vermutlich die Befragung der Toten. Sie hörten die Gespräche der Ratsuchendenuntereinander ab. Die Pilger waren berauschenden Rauschwaden und Furcht erzeugenden Maschinen im dunklen Labyrinth der Anlage orientierungslos ausgeliefert – man hat noch Spuren davon gefunden.

In der dunklen und nassen unterirdischen Krypta war man mit dem laut hallenden Echo auch psychoaktiven Reizen ausgeliefert.

Von der Anhöhe des Totenorakels blickt man hinüber zur Schlucht des Acheron, des Totenflusses, einem der Eingänge zur Unterwelt der Antike. In der griechischen Mythologie sowie in Dantes Göttlicher Komödie ist es der greise Fährmann Charon, der die Toten für einen Obolus im Boot über den Totenfluss bringt. Diese Münze bekamen die Toten unter die Zunge gelegt.

Der Zugang im Wald ist nicht schwierig. Dann aber wird die Schlucht eng, zuerst gehts noch über Blöcke und plötzlich wird das Wasser hüfttief. Eine Gruppe einheimischer Touristen geht mit Neopren-Anzügen durchs kalte Wasser. Oben tauchen drei Kajaks auf. Unvermittelt verblasst die mystische Aura.

Die Suche nach dem Eingang in die Unterwelt hat viel von ihrem Nimbus eingebüsst. Doch der Ort bleibt beeindruckend.

Unser nächster Besuch gilt dem Heiligtum von Dodóna, dem ältesten Orakel Griechenlands. Nach Delphi soll es das bedeutendste der antiken griechischen Welt gewesen sein. Es ist friedlich hier, kaum ein Touristenauto, und im Frühling umgeben von einem farbigen Blumenmeer. Ein grosses Amphitheater fängt den Blick.

Auch Odysseus hätte nach der Überlieferung das Orakel in Dodóna befragt, wie er denn wieder nach Hause käme. Die heutige Eiche sei etwa um 1980 angepflanzt worden.

Interessant ist die Art der Weissagung. Zeus als höchster Gott wurde unter freiem Himmel verehrt. Aus dem Rauschen einer heiligen Eiche und aus dem Gurren der Tauben leiteten die drei Priesterinnen ihre Orakelsprüche ab. Zusätzlich wurde der Taubenflug interpretiert.

Im Museum von Ioánnina kann man noch heute Fragen und Bitten der ratsuchenden Menschen auf kleinen Bleiplättchen sehen.

In Ioánnina, der Haupstadt des Épirus, können Besucher von der Festungsanlage aus ein fantastisches Panorama über die Stadt, den See und die Berglandschaft des Píndos-Gebirges geniessen. Innerhalb der Zitadelle finden sich Museen und zwei Moscheen. Das Bauwerk stammt aus der späten osmanischen Zeit: Viele Elemente der einstigen byzantinischen Festung, die wiederum auf einem Bau in hellenistischer Zeit basiert, wurden übernommen.

Friedlich vereint innerhalb der Festung von Ioánnina: die Fethiye-Moschee und das byzantinische Museum.

Das Stadtzentrum ist von kleinen Gassen und historischen Gebäuden aus türkischer Herrschaftszeit gesäumt. Die Stadtviertel am Seeufer vermitteln orientalische Atmosphäre. Leider ist der Pamvótida-See mit geringem Abfluss durch Abwässer vergiftet.

Ali Pascha, eigentlich vom Sultan eingesetzter osmanischer Gouverneur, baute sich einen eigenen multiethnischen Staat auf.

Anderthalb Stunden Autofahrt entfernt von Ioánnina liegt das Gebiet der Zagóri–Dörfer inmitten einer intakten Natur mit Wäldern, Wasserfällen und tiefen Schluchten. Fernab vom Touristenrummel beeindrucken die aus quaderförmigem Naturstein gebauten und mit dicken Schieferplatten gedeckten Häuser. Die Dorf-Ensembles stehen unter Denkmalschutz.

Die Brücke von Plakídas mit drei Bogen, gebaut 1814. Auf Eselspfaden kann man die Gegend erwandern.

Während der Besatzungszeit im 2. Weltkrieg und in den griechischen Bürgerkriegswirren von 1946 bis 1949 wurden hier viele Menschen ermordet oder vertrieben und zahlreiche Dörfer verwüstet. Heute sind die meisten Gebäude wieder aufgebaut, manche als Ferienhäuser. In ihrer Architektur wirken sie wie Tessiner-Dörfer.

Blick auf die Dachlandschaft von Kapesovo

Der 250 Kilometer lange Píndos-Gebirgszug, eine düstere und unnahbare Gebirgswelt, drückt dem Épirus seinen Stempel auf – mit Bergen, die durchaus mit denen der Schweiz zu vergleichen sind. Die Strassen sind gut befahrbar, manchmal eng. Geschwungene Steinbrücken, Steinkirchen und Dorfplätze mit einer grossen Platane erzeugen eine geruhsame Stimmung.

Vor der Kirche in Makro Papigo

Die grösste Überraschung ist in ihrer Unberührtheit die Víkos-Schlucht. Mit einer Länge von gut zehn Kilometern und Felswänden von 600 bis 1000 Metern über dem Fluss ist sie die tiefste Schlucht der Welt; amtlich beglaubigt und im Guinness-Buch der Rekorde verzeichnet. Vom gut tausend Meter hoch gelegenen Dorf Monodéndri, architektonisch ein Juwel, führt ein Weg hinunter zum Agios-Paraskevi-Kloster. Ein junger Mönch betreibt dort einen kleinen Laden mit selbst gemalten Ikonen.

Blick in die Víkos-Schlucht. Hinter dem Kloster führt ein Weg hinunter – von hier oben bietet sich ein atemberaubender Blick.

In dieser Wildnis gedeihen viele Heilpflanzen. Erfahrene einheimische Heiler zogen einst mit ihren selbst hergestellten Medizinen bis an die Fürstenhöfe von Konstantinopel, Wien und Venedig. Bevor es Antibiotika gab, waren Medizinalpflanzen hoch begehrt. Dies brachte Geld in die Täler – herrschaftliche Villen und von Mäzenen gestiftete Schulen zeugen vom damaligen Reichtum.

Titelbild: Einbogen-Brücke Kontodímo bei Kipi, erbaut 1806
Alle Fotos: Justin Koller

Hier geht es zu weiteren griechischen Orten, die Autor Justin Koller kurz vor dem Lockdown besucht und beschrieben hat:
Thassos – Smaragd im Thrakischen Meer
Samothraki – Insel der Schafe, Insel der Nike
Limnos – unbekannte Insel der Ägäis

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