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Das Glück am Grab

Vielleicht sucht einen das Glück wirklich. Es war auf dem Alten Sankt-Matthäus-Kirchhof in Berlin vor einer Grabstätte, als Gefühle von Wärme, Freundschaft und tiefer Verbundenheit auch mich überschwemmten. Diese Begebenheit, die ich bei meinem ersten Wiedersehen mit Berlin nach vielen Monaten innerhalb der Schweizer Grenzen erlebte, ist das Wunder meines Sommers, auch wenn es weit entfernt von Sandstrand und Sonnenbrille geschehen war.

Eine Gruppe von Menschen fand sich auf Einladung von Tochter Rahel und Witwe Graciela, die den Künstler bei seinen Riesenprojekten in Berlin und Mexico bis zum unerwartet traurigen Ende unterstützt und begleitet hat, beim noch frischen Grab von Urs Jaeggi ein, um dessen 90. Geburtstag trotzdem zu feiern. Viele hatten Sonnenblumen oder Rosen mitgebracht und in die Vasen zwischen den Pflanzen und den Fotos gesteckt.

Die Geburtstagsfeier des Freundeskreises an der Grabstätte von Urs Jaeggi (1931- 2021)

Gleich beim Grab stand eine kleine Eisenplastik, stellvertretend für die vom Soziologen, Schriftsteller und Künstler bis in seine letzten Stunden vorbereiteten grossen Ausstellung zum Neunzigsten. Und statt der grossen Vernissagegesellschaft in einem umgenutzen Industrieareal wie bei den Ausstellungen zum Achtzigsten oder zum Fünfundachtzigsten, war es eine verschworene Freundesversammlung, die zur Geburtstagsfeier einander mit einem Glas Rotwein Mut machten und den Urs-Fotos auf dem Grab, eins ein Porträt, eins zeigt Urs am Lenker eines Autoscooters, zuprosteten.

Urs’ Tod im Februar war ein Schock. So fielen hier und dort Tränen auf die Erde, und der redegewandten Tochter versagte die Stimme bei ihrer anrührigen kleinen Ansprache an die Freundesversammlung: Ein sehr lieber Freund ist gestorben. Nicht an der Virusinfektion. Sondern an einer anderen Komplikation, obwohl er doch so gern noch gelebt hätte und bis zur letzten Stunde gekämpft hat.

Ganz nah beieinander sind sie bestattet, Urs Jaeggi und Dietrich Lückoff.

Nun ist es Sommer. Die engen Regeln wegen der Pandemie lockern sich. Wir können von weit her anreisen, um die Trauer zu teilen. Wir feiern am Grab des Freunds seinen um wenige Monate nicht mehr erlebten neunzigsten Geburtstag.

Doch das Glück kann einen auch in Zeiten grosser Trauer finden: Zwei Frauen, jede an ihrer Grabstätte haben es genau hier erlebt, Sabine, die 2014 ihren Mann und die Liebe ihres Lebens bestatten musste, und Rahel, deren Vater seit wenigen Monaten im Geviert gleich nebenan liegt. In dieser Friedhof-Region, wo ausser diesen zwei Gräbern viel Wiese, alte Bäume, eine Sitzbank und etwas entfernt andere, auch alte Grabstätten Friedhofsruhe ausstrahlen.

Sabine erzählt: «Ich hatte meine Grabstelle gewählt, weil sie in der Nähe der Gräber der Brüder Grimm liegt, denn mit den Grimms verband Dietrich vieles im Rahmen seiner Arbeit an der Biographie über einen vergessenen interessanten Juristen und Bibliophilen des 19. Jahrhunderts: Freiherr Karl Hartwig Gregor von Meusebach.

Die Ehrengräber der Brüder Grimm

Ich war immer sehr glücklich über ‹mein› Grab, bis ich am 28. März mit Entsetzen sah, dass sich jemand quasi in mein Grab gelegt hatte.» Schlaflose Nächte, Wut auf die Friedhofsverwaltung, die solchen Frevel zugelassen hatte, ohne zu fragen, waren die Folge. Gestörte Trauerarbeit bei der Gartenarbeit, die auch bei der Nachbargrabstätte aufgenommen worden war, wobei eines Tages ein Foto von Urs am Steuer eines Autoscooters die Anonymität aufhob und Sabine «am 13. April gewahr wurde, dass es Urs ist, der sich da angeschmiegt hatte. So wich mein Ärger der Freude, dass Dietrich nun einen wunderbaren Nachbarn hat und ich etwas später auch seine wunderbare Tochter Rahel kennen lernen konnte.»

Nicht nur Urs Jaeggi, auch mehrere seiner engen Freunde und Freundinnen, die an diesem Sommerabend zur traurig-heiteren Geburtstagsfeier versammelt waren, hatten Dietrich Lückoff gekannt, mit ihm beispielsweise in der legendären Autorenbuchhandlung fröhlich gebechert und gescheit geredet. Vielleicht auch über den Freiherrn von Meusebach, dessen umfangreiche Biographie – das Opus Magnum von Dietrich Lückoff – posthum von Sabine Burmester vollendet und herausgegeben wurde. Mit viel Energie fand sie einen Verlag, die guten Rezensionen kamen ohne ihr Dazutun.

Rahel Jaeggi ist in ihrer Grundhaltung zu Gesellschaft und zur Welt eine würdige Nachfolgerin ihres Vaters. Nur ist nicht bekannt, ob sie neben ihrer Lehr- und Forschungstätigkeit an der Humboldt-Universität und ihren zahlreichen internationalen Auftritten über philosophische Themen auch Literatur schreibt oder Kunst macht. Sicher ist nur, dass ihr Sohn die Fussball-Leidenschaft des Grossvaters geerbt hat.

Freund Werner van Treeck zitiert Urs in einer Trauerrede so: «Mein Leben hätte, wäre ich in der Schweiz geblieben, ganz anders ausgesehen. Ich wäre ich und doch ein anderer. Es würde auch ganz anders aussehen, wenn ich nur Soziologe geblieben wäre oder nur Kunst produziert hätte. Ich wollte nicht nur eine Arbeit machen, nicht nur ein Leben führen, sondern mehrere.»

Das letzte Wort möchte ich Sabine überlassen:
«Nichts bleibt, wie es ist… und oftmals ist das Neue auch schön.»

Rahel (links) und Sabine (rechts) rücken das Autoscooter-Foto zurecht.

Post Scriptum: Für mich gab’s, wieder zurück aus Berlin, noch eine rührende Pointe: In einem Nachruf auf Dietrich Lückoff, dem ich leider nicht begegnet bin, heisst es, er sei ungern Auto gefahren, leidenschaftlich jedoch Autoscooter. Diese zwei Intellektuellen, grossartigen Denker und Macher verbindet also mehr, als man meint.

Fotos: Gil Funccius und Reto Hänny
Dieser Nachruf auf Dietrich Lückoff ist sehr lesenswert
Link zum Buch von Dietrich Lückoff: Aus dem Leben und Kleben des Freiherrn Karl Hartwig Gregor von Meusebach
Link zur Homepage von Urs Jaeggi

Einen Nachruf auf Urs Jaeggi hat Ueli Mäder für seniorweb verfasst.

Hier finden Sie die bereits veröffentlichten Beiträge zur Sommerserie der Seniorweb-Redaktion:
Bernadette Reichlin: Ferienträume – Traumferien

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